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Marion Brown Quartet: Mary Ann – Live In Bremen 1969

Stil: Free Jazz

Cover: Marion Brown Quartet: Mary Ann – Live In Bremen 1969

Puh! Erst einmal durchatmen.
Denn mit dieser Doppel-CD lehnt sich MIG music mächtig aus dem Fenster, um auf dem harten Musik-Boden des Free Jazz der Spätsechziger aufzuschlagen.
Und das hat einerseits etwas mit Radio Bremen und andererseits natürlich den Veröffentlichungen zu tun, die einen aus diesem Bremer Radioumfeld immer wieder überraschen. Dieses Mal aber geht die Musikreise mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, wo wir dann bei dem Altsaxophonisten Marion Brown (Ja, ein Mann!) und seinem Quartett mit Posaunisten Ed Kröger, Bassisten Sigi Busch und Schlagzeuger Steve McCall landen, die als das MARION BROWN QUARTET am 24. April 1969 live im 'Lila Eule Club' in Bremen auftraten und ordentlich die Jazz-Fetzen frei und ungebremst fliegen ließen, ohne dabei – Lila-Eule hin oder her – Federn lassen zu müssen.

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Wohl besonders darum und unter dem Aspekt der historischen Qualität im Rahmen der weltweiten Jazz-Szene erscheint nun diese historische, aber nicht etwa angestaubte Aufnahme des 2010 im Alter von 69 Jahren verstorbenen Altsaxophonisten Brown in einer dermaßen ausgezeichneten Sound-Qualität plus großartiger Stereo-Effekte, dass man kaum glauben möchte, dass diese kristallklaren Live-Aufnahmen schon 54 Jahre alt sind.
Zudem gibt es im achtseitigen Booklet zur Doppel-CD ein Begleitwort seines Sohnes Djinji, der über die Hintergründe dieser Veröffentlichung sowie den musikalischen Werdegang seines Vaters spricht und außerdem bisher unveröffentlichte Fotos beisteuert.

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Auch ist das große Brown-Vorbild nicht nur bei seinem Spiel, sondern auch bei einem Titelnamen zu erkennen: „Ode To Coltrane“. Neben besagtem – oder besser im 17 Minuten langen Stück geehrten – JOHN COLTRANE kommt einem auch ARCHIE SHEPP beim Hören dieser 150 Free-Jazz-Minuten in den Sinn. Zwei Musiker, mit denen Brown gemeinsam ihre richtungsweisenden Jazz-Alben „Ascension“ (1966) und „Fire Music“ (1965) einspielte.

Damit die insgesamt nur acht Stücke ihr ganzes improvisatorisches Innen- wie Außendasein komplett ausleben und voller überraschender Effekte daherkommen können, benötigen sie zu ihrer groß angelegten Entfaltung natürlich viel Zeit, sodass sich ihre Laufzeiten zwischen 11 und 27 Minuten bewegen (Drei davon knacken hierbei die Über-20-Minuten-Marke, während zusätzlich dem Album-Opener „Gesprächsfetzen“, in dem natürlich nicht gesprochen sondern frei improvisiert wird, nur 5 Sekunden bis zu den 20 Minuten fehlen.)

Eine spannende Komponente wohnt neben der Musik, die wirklich nur etwas für Jazz-Freunde der freien Spielart ist, besonders auch dem Booklet bei, da hier Browns Sohn Djinji ausführlich zu Wort kommt und über den Zwiespalt zwischen ihm und seinem Vater schreibt, den er einerseits als Musiker verstand, dessen Musik selber er als Kind absolut (noch) nicht verstehen konnte und andererseits als Vater, dem eben immer auch dieser berühmte Musiker-Status zugeordnet wurde: „Sein Talent, sein Können, seine Begabung waren etwas, was ich als Kind nie wirklich wahrnahm. Mir war nie klar, wieviele Menschen sich seiner Welt hingaben, während alles, was ich von ihm sah, der Vater war, der so seltsam unterschiedliche Seiten besaß. Und mit dieser Musik – dem Free Jazz – konnte ich ähnlich wie viele andere Leute überhaupt nichts anfangen, schon gar nicht als kleiner Junge.“

So wie ihm als Kind geht es auch heute noch vielen Erwachsenen, die einfach kein offenes Ohr für diese 'verrückte Musik' haben, die übrigens noch im 3. Reich als 'entartet' bezeichnet worden war, was viel über die Dekadenz der Nazis, die alles verbaten und vernichteten, was sich nicht in ihr Schema pressen ließ, aussagt. Nur so viel dazu: Diese Musik lebt noch immer, das 3. Reich ist längst Geschichte, auch wenn es einige deutsche Deppen einfach nicht wahrhaben wollen.

Darum kurz weiter im Djinji-Text vom 27. Dezember 2022: „Meines Vaters Spielweise klang wie eine Sprechstimme. Die Art, wie er sein Horn hielt, erinnerte mich an die Art, wie er meine Hand hielt. Die Art, wie er ging, war im gleichen Rhythmus wie seine Stücke. Das alles ergab einen Sinn. Seine Musik war in erster Linie das, was er war. Sie war der reinste Ausdruck seiner Seele und alles, was er tat, hatte die gleiche sanfte Kraft wie seine Musik. Er war wirklich eins mit seiner Kunst. Zwischen beiden gab es keine Trennung.“

Braucht's wirklich noch mehr, um diesen Free Jazz des MARION BROWN QUARTETs zu verstehen?

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FAZIT: Vielleicht fragen sich einige in dem Moment, wenn die ersten Töne aus der Doppel-CD „Mary Ann – Live In Bremen 1969“ vom amerikanischen MARION BROWN QUARTET erklingen, was sich MIG music mit dieser Free-Jazz-Veröffentlichung aus dem Bremer Lila Eule Club vom 24. April 1969 in ausgezeichneter Klangqualität gedacht haben. Free Jazz?! Aber klar doch, denn dieser hier ist wirklich legendär und richtig gut, wenn man nicht alles, was irgendwie schräg zu klingen scheint, von vornherein ablehnt. In einem Zeitalter, in dem wir statt auf kulturelle 'Lila Eulen' lieber auf schokoladige 'Lila Kühe' setzen, (leider) durchaus verständlich. Liest man aber beim Hören dieser über 150-Jazz-Minuten das achtseitige Booklet, in dem Browns Sohn über die Wirkung der Musik seines 2010 verstorbenen Vaters auf ihn schreibt, dann wird sich vielleicht bei dem einen oder anderen ein völlig neuer Horizont im Umgang mit „Mary Ann – Live 1969“ öffnen.

Erschienen auf www.musikreviews.de am 09.05.2023

Tracklist

  1. <b>CD 1</b> (79:10):
  2. Gesprächsfetzen
  3. Ode To Coltrane
  4. Exhibition
  5. Mary Ann
  6. <b>CD 2</b> (72:14):
  7. Nocturne
  8. Modus Rhythmicus
  9. Juba Lee
  10. Study For 4 Instruments

Besetzung

  • Bass

    Sigi Busch

  • Schlagzeug

    Steve McCall

  • Sonstiges

    Marion Brown (Saxophone, Rekorder, Wasserflaschen), Ed Kröger (Posaune, Congas)

Sonstiges

  • Label

    MIG music

  • Spieldauer

    151:24

  • Erscheinungsdatum

    28.04.2023

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