Fast zehn Jahre ist es jetzt her, dass NATALIE MERCHANT im Sommer 2013 die Arbeiten an ihrem bislang letzten Album mit neuem Material beendete. Dass ihr nunmehr fünftes Solo-Album „Keep Your Courage“ erst heute erscheint, hat einen ganz einfachen Grund – denn die Solo-Alben der Songwriterin, die bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts eine respektable Karriere als Frontfrau der Indie-Folk-Band 10.000 MANIACS absolviert hatte, waren so erfolgreich, dass sie es sich seit der Veröffentlichung ihres dritten Albums „Ophelia“ leisten konnte, nur noch dann Musik zu machen, wenn sie Lust und Zeit dazu hatte – und sich ansonsten anderen Betätigungen widmen konnte. Dazu gehören außer ihren Hobbys, wie Gärtnern und Malen, unter anderem ihre Tätigkeiten als politische Aktivistin und mehr noch als Musik-Lehrerin für kleine Kinder; einer Aufgabe, der sie sich mehrere Jahre in Vollzeit widmete. Hinzu kam dann noch, dass sie sich in den letzten Jahren der Erziehung ihrer Tochter widmen wollte, sowie natürlich die Pandemie und obendrein eine Rückenmarksoperation.
Schließlich war es dann ein transkontinentaler Dialog mit dem schottischen Poeten ROBIN ROBERTSON, der ihr sein Buch „The Long Take“ zusandte und sich mit ihr über das Wesen des Schreibens unterhielt, was in ihr das Bedürfnis auslöste, selbst wieder neue Songs schreiben zu wollen. Denn – und das muss man wissen – Songtexte sind für NATALIE MERCHANT nicht mehr oder weniger als in Musik eingefasste Gedichte. In der Pandemie war sie – wie alle anderen Künstler auch – auf sich selbst zurückgeworfen und stöberte darum in alten Tagebüchern, Briefen und Fotografien und schrieb schließlich ein ganzes Album über verschiedenen Formen der Liebe. Das stellte sie indes erst fest, als ihr auffiel, dass sie das Wort „Liebe“ ganze 26 mal in den neuen Texten verwendet hatte.
Den Titel des Albums - „Keep Your Courage“ - wählte sie schließlich, weil das Wort „Courage“ in seinem lateinischen Wortstamm den Begriff „Cor“ enthält – der in vielen romanischen Sprachen schließlich die Basis für das Wort „Herz“ bildet. Und das Herz ist im poetischen Sinn ja der Sitz der Liebe. Und wer hat schließlich mehr „Courage“ als JEANNE D'ARC?
Und damit war dann auch das Covermotiv gefunden, das eine alte Photographie einer Statue der Jungfrau von Orleans zeigt.
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Nun ist das aber so, dass eine NATALIE MERCHANT keine Liebeslieder im üblichen Sinne schreibt. Ihre Aphorismen, Bilder und Metaphern findet sie in verschiedensten Bereichen: „Come On Aphrodite“ und „Narcissus“ spielen mit Bildern aus der Mythologie, „Hunting The Wren“ (eine Cover-Version der Band LANKUM) ist pure Folklore mit politisch/historischem Unterton.
„Tower Of Babel“ arbeitet zwar mit biblischen Bildern – aber gemeint ist natürlich der neue Babylonische Turm, den sich die Menschheit gerade heutzutage wieder bastelt.
„Big Girls“ und „Sister Tilly“ sind schließlich Empowerment-Songs, die ein Loblied auf starke Frauen singen und ihre Parabel über den Valentins-Tag - „The Feast Of Saint Valentine“ endet schließlich in der Zeile „Love Will Conquer All“ - den letzten Worten, die auf dem Album erklingen.
In gewisser Weise ist „Keep Your Courage“ ein typisches NATALIE MERCHANT-Album geworden. Während sich die Musikerin auch als Texterin treu blieb, fasste sie auf der musikalischen Seite den Entschluss, die Sache etwas größer als das Leben – bzw. ihre bisherigen Alben – anzulegen, um ihren Songs jene monumentale Größe angedeihen zu lassen, nach denen die lyrischen Vorgaben zu verlangen scheinen. Ein bisschen scheint es so, dass „Keep Your Courage“ ein Album geworden ist, wie sie es immer schon hatte machen wollen – das aber besonderer Umstände und nicht zuletzt einer Prise Altersweisheit bedurft hatte, damit es tatsächlich entstehen konnte.
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FAZIT: „Ich räume ein, dass die Scheibe etwas kleiner hätte sein können, aber ich wollte, dass es ein richtig großes Album werden sollte“, erklärt NATALIE MERCHANT den epischen Ansatz ihres neuen Albums „Keep The Courage“. Dazu versicherte sie sich nicht nur der Zuarbeit ihrer Live-Band, sondern auch verschiedener Gäste: ABENA KOOMSON-DAVIS, die Leiterin des RESISTANCE REVIVAL CHORUS mit der Merchant zwei Duette sang, deren Gatte, der Jazz-Posaunisten STEVE DAVIS, der dann beeindruckend voluminöse Bläser-Arrangements beisteuerte, ein Streicher-Quartett unter der Leitung der Violinistin MEGAN GOULD, KEVIN CRAWFORD und CILIAN VALLELY von der keltischen Folk-Band LÚNASA und der syrische Klarinettist KINAN AZMEH. Das Ergebnis ist ein Album, bei dem die verschiedenen Inspirationsquellen aus Folk, Folklore, Klassik, Jazz, Gospel und Blues von Merchant mit leichter Hand und ihrem unnachahmlichen Sinn für Melodie, Harmonie, Drama, Romantik und Mythologie zu ihrem bislang schlüssigsten musikalischen Statement verquickt wurden.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.04.2023
Mike Rivard
Natalie Merchant, Abema Koomson
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Carmen Staaf
Alison Miller
Nonesuch Records
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14.04.2023