Er könnte mit seiner warmen, sympathischen Stimme vermutlich das Hamburger Telefonbuch (falls es sowas noch gibt) heruntersingen - und auch das würde sich gut anhören. Tut er aber nicht, sondern hat Besseres vor mit seinen Hörern. Für "Pseudopoesie", das nach eigener Zählung insgesamt zwölfte Studioalbum in der langen Karriere von NIELS FREVERT, hat der Singer-Songwriter aus der Hansestadt wieder mal etliche Textzeilen zum Kopfkratzen (wie schlau ist das denn...) und zum Niederknien (wie schön ist das denn...) gefunden. Der einstige Frontmann der Deutschrock-Band NATIONALGALERIE (1987 bis 1997) ist längst zum Aushängeschild seiner Zunft "Moderne Liedermacher" geworden. Die kontinuierliche Aufwärtsentwicklung einer vor 25 Jahren gestarteten Solokarriere bestätigt sich mit hochwertigen Veröffentlichungen immer wieder aufs Neue.
Das fängt auch diesmal schon beim Albumtitel an, der mit seiner Ansammlung von sehr ähnlichen Buchstaben beim Lesen eine fast psychedelische Wirkung erzielt. Auf sowas kommt wohl kein anderer deutscher Popkünstler, zumal der renommierte Songdichter NIELS FREVERT nun geradewegs das Gegenteil eines "Pseudopoeten" ist. "Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass der nun so viele fragende Gesichter hervorruft", sagt der 55-Jährige im Zoom-Interview lachend über den seltsamen Begriff. "Die Plattenfirma meinte: Ja, du kannst dir so einen Titel erlauben. Andere Kollegen würden sich damit vielleicht ein Bein stellen. Und nicht zuletzt ist Pseudopoesie ein wirklich schön anzuschauendes Wort."
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Ganz unprätentiös kommt dies rüber, obwohl der Mann seinen Wert in der deutschen Musikszene natürlich kennt. Auch andere Song-Worte mit Stolpergefahr ("Achterbahnromanze", "zweieinhalbfacher Salto" oder "Waschbeckenrand") bringt NIELS FREVERT mühelos rüber. Neben Gisbert zu Knyphausen, Thees Uhlmann und Sven Regener von Element Of Crime ist Frevert einer der wenigen Texter aus der ersten Deutschpop-Liga, die nie in Parolen oder Kitsch abgleiten, sondern präzise Alltagsbeobachtungen und melancholisches Gedankengut zu einer so anspruchsvollen wie empathischen Liedsprache formen können.
Textlich und inhaltlich ist "Pseudopoesie" also wieder mal brillant und das Themenspektrum so breit wie beim ähnlich gestrickten Vorgänger "Putzlicht" (2019). Corona und die brutalen Auswirkungen für Künstler streift NIELS FREVERT nur kurz: "Ich glaube schon, dass ich mich davon freimachen konnte. Das ist auch nicht der Stoff, den die Hörerinnen und Hörer draußen gerade brauchen. Es gibt ein Lied auf dem neuen Album, das in diese Richtung geht, es heißt „Klappern von Geschirr“. Die Pandemie ignorieren konnte ich nicht, aber ich wollte sie auch nicht zu stark thematisieren", sagt er im Videogespräch.
"Pseudopoesie" ist mit gut 33 Minuten ein kurzes Album, das dem Hörer gleichwohl deutlich länger vorkommt - nicht weil es langweilt, sondern weil es so randvoll ist mit uneitler Klugheit und teils schmerzhafter Schönheit. Und obwohl die Platte als Ganzes, also von Song eins bis Song zehn, genossen werden sollte, ragen einige Stücke dann doch heraus.
Etwa "Rachmaninow", wo NIELS FREVERT seiner Verehrung für den Spätromantik-Komponisten und sein berühmtestes Klavierkonzert Ausdruck verleiht ("Mir wird das Herz schwer/beim Dritten von Rachmaninow"). Mehr als das - die aktuelle Entwicklung mit dem brutalen russischen Überfall auf die Ukraine kriecht in den Text hinein. "Es geht da tatsächlich um ein Gefühl von Zerrissenheit", erklärt der Songschreiber. "Weil mir dieser Krieg auch deswegen so unter die Haut und an die Nieren geht, weil ich eben mit der russischen Kultur so sympathisiere. Weil ich russische Schriftsteller bewundere, weil ich russische Komponistinnen und Komponisten bewundere, weil mein Lieblingsautor Joseph Roth ukrainischer Herkunft ist. Weil ich dabei so viel fühle."
Mit dem Opener "Weite Landschaft", der direkt beim wuchtigen "Putzlicht"-Folkrock-Sound von vor knapp vier Jahren anknüpft, sowie "Fremd in der Welt" und "Kristallpalast" hat NIELS FREVERT diesmal mindestens drei Songs im Angebot, zu denen man im Konzert tanzen, die Kopflastigkeit der Liedermachermusik also hinter sich lassen kann. Aber es gibt natürlich immer noch den nachdenklichen Geschichtenerzähler Frevert, der inzwischen auch mal autobiografisch textet. Besonders gelungen ist "Ende 17", ein Lied über die eigene Jugend in der deutschen Rock-Szene der 80er, mit der Erwähnung von alten Helden wie Blixa Bargeld und Johnny Thunders.
"Das ist tatsächlich meine Geschichte zu der Zeit, also etwa 1985. Ich war damals zu früh dran, habe mich eigentlich überfordert, weil ich ein Spätentwickler war", erzählt Frevert. "Ich stand also mit 17 spät nachts in irgendwelchen Musikertreffpunkten herum und wusste gar nicht, wie mir geschah, ich hatte nichts zu melden." Eine gewisse Traurigkeit über sein Karriere-Timing mit der sehr anerkannten, aber nie sehr erfolgreichen Band Nationalgalerie lässt sich heraushören: "Ich habe dann meine ersten Demos auf Deutsch verschickt, da sagten die Plattenfirmen: Was singst Du denn auf Deutsch – sing Englisch! Zu früh dran also. Auch in den 90er-Jahren standen wir als Band immer wieder vor verschlossenen Türen und haben daran gerüttelt."
Bis heute ist NIELS FREVERT kein hochpopulärer Singer-Songwriter wie die Grönemeyers, Niedeckens oder Maffays, die regelmäßig die deutschen Pop-Charts anzünden. Aber er hat für seine herausragenden Alben und mitreißenden Konzerte ein treues Publikum, das die feine Songpoesie und reife Kompositionskunst des Nordlichts zu schätzen weiß.
Ein Lied wie "Tamburin" etwa, von einer wunderbaren, an Lloyd Cole oder Roddy Frame erinnernden Gitarrenpop-Melodie getragen, ist nur eines von vielen aktuellen Beispielen. An der Seite seines neuen Produzenten Tim Tautorat (Provinz, Tristan Brusch, Annett Louisan) fügt Frevert einer starken Diskografie nun ein weiteres Juwel hinzu. Mit der überschaubaren kommerziellen Wirkung hat er seinen Frieden gemacht: Erfolg sei nun mal relativ, er habe "verschiedene Parameter, es geht doch auch um die Langstrecke", sagt der im alternativen Schanzenviertel lebende Ur-Hamburger.
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FAZIT: Er ist seit 25 Jahren als Solo-Künstler ein Garant für so klugen wie zugänglichen Liedermacher- oder Songwriter-Pop. Auch mit dem aktuellen Album "Pseudopoesie" erweist sich NIELS FREVERT als das Gegenteil eines "Pseudopoeten". Die zehn Lieder atmen Euphorie und Empathie gleichermaßen - verpackt in ein stimmiges, einladendes Indiepop-Gewand. Der Hamburger Kritikerliebling kann also offenbar nichts falsch machen, wenn er alle drei bis fünf Jahre ein neues Schmuckstück auf den Markt bringt - es sollten halt nur viel mehr Leute davon wissen.
<b>PS:</b> Im Rahmen der Veröffentlichung seines neuen Albums begibt sich NIELS FREVERT auch gemeinsam mit seiner Band ab Mitte April auf Konzert-Tour. Genaueres dazu (alle aktuellen Termine und die Kartenbestellung) lest ihr <a href="http://www.musikreviews.de/news/NIELS-FREVERT-ab-Mitte-April-auf-Konzert-Tournee/5104/" target="_blank" rel="nofollow">unter unseren NEWS</a>!
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 22.03.2023
Stephan Gade
Niels Frevert
Niels Frevert, Tim Tautorat, Christoph Bernewitz, Philipp Steinke
Martin Hornung, Tim Tautorat
Hanno Stick, Asterix Westphal
Catharina "CATT" Schorling (Posaune und Trompete), Tim Tautorat (Geige)
Grönland Records
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24.03.2023