Man tritt PAOLO FRESU bestimmt nicht zu nahe, wenn man ihn mit Miles Davis oder Chet Baker vergleicht. Das spricht nämlich nicht gegen die Originalität seiner Musik, sondern für deren hohe Qualität - und den ganz besonderen Sound seines virtuosen Trompetenspiels, das bereits auf rund 400 Platten zu hören war, davon fast 100 unter seinem Namen oder seiner Führungsrolle. Der 1961 in Berchidda auf Sardinien geborene Künstler hat mit seiner Orientierung an einigen US-amerikanischen Größen des Genres (inklusive der Tribute-Werke "Shades Of Chet" und "Play Miles Davis" zusammen mit dem Kollegen Enrico Rava) ein für den europäischen Jazz ziemlich einmaliges Niveau erreicht. Das zeigt nun auch seine neue Platte "Food", das dritte gemeinsame Projekt mit dem kubanischen Pianisten OMAR SOSA.
Dieses hochinteressante Konzeptalbum beschließt eine Trilogie, die mit "Alma" (2012) begann und mit "Eros" (2016) fortgesetzt wurde. Quasi als Stammgast mit dabei ist wieder der berühmte brasilianische Cellist Jaques Morelenbaum, außerdem setzen der Rapper Kokayi aus Washington DC, der italienische Sänger Cristiano de André und die Südafrikanerin Indwe vokale Akzente. Im Zentrum stehen jedoch die sphärischen Klänge, die PAOLO FRESU mit Trompete, Flügelhorn, Effektgeräten und Percussions erzeugt, sowie das mal impressionistische, mal im Latin-Jazz-Stil swingende Spiel von OMAR SOSA, der sich an akustischem Piano, Fender Rhodes, Wurlitzer, weiteren Keyboards und Samplern austobt.
"Food" ist, wie der Albumtitel andeutet, dem Geschmack, der Ästhetik und Ethik des Kochen und des Essens gewidmet. "Im Laufe eines Jahres wurden die Geräusche von Restaurants und Weingütern aufgenommen, ebenso wie die Stimmen derer, die in diesen Lokalen arbeiten", heißt es im Info-Text von Fresus Labels Tük Music. "Wir hören das mechanische Klirren von Pressen, das zarte Klirren von Gläsern, die Geräusche von Braten in Öl, Weingießen, Messern, die Gemüse schneiden, sowie die erzählenden Stimmen von Köchen und Winzern und Gönnern auf Italienisch, Sardisch, Friaulisch, Spanisch, Französisch, Englisch und Japanisch. Die Songs auf dem Album erzählen Geschichten von Rezepten, kulinarischen Vorlieben und Geselligkeit."
Neben den instrumentalen Glanzstücken von PAOLO FRESU und OMAR SOSA, die kongenial über all diese Stimmen und Stimmungen gelegt wurden, sind die zwölf "Food"-Tracks mit bearbeiteten, gemischten und geloopten Field Recordings "angerichtet". Und Gesang gibt es auch, wobei besonders ein Arrangement des Volksliedes "'A Cimma" von Fabrizio de André heraussticht, hier voller Wärme interpretiert von seinem Sohn Cristiano. Wer nun befürchtet, dass dieses komplexe Album ein ziemlich zerfleddertes, vielleicht auch verkopftes Patchwork ist - nein, gar nicht, die "Food"-Musik fließt wunderbar weich und harmonisch dahin, die Mixtur aus europäischem Jazz, mediterraner Folklore, Latin- und Ambient-Elementen funktioniert perfekt.
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FAZIT: Der 62-jährige, vielfach ausgezeichnete PAOLO FRESU (unter anderem im Trio Mare Nostrum mit Richard Galliano und Jan Lundgen) hat sich, wie auf allen Tük-Veröffentlichungen, auch mit der Gestaltung des aktuellen Album-Artworks besondere Mühe gegeben. Ein Bild des Fantasy-Forschers Diego Cusano - das Gesicht einer schönen Frau mit Tomaten-Spaghetti-Hut - kombiniert "die italienische und die kubanische Seele", quasi als Brücke zwischen zwei Kontinenten, wie es vom Label heißt. „Food“, die dritte Platte des Duo-Projekts mit OMAR SOSA, solle "die Freude am Geschmack, Geselligkeit, Entdeckung und Dialog zum Ausdruck bringen … aber auch die Bedeutung gesunder Ernährung und die Notwendigkeit, sich der prekären Situation einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion auf dem Planeten bewusst zu werden". Na dann: Guten Appetit, ganz ohne Reue!
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.06.2023
Omar Sosa, Indwe, Cristiano de André, Kokayi
Omar Sosa, Paolo Fresu
Paolo Fresu (Trompete, Flügelhorn, Percussions), Omar Sosa (Percussions), Jacques Morelenbaum (Cello), Andy Narell (Pan-Trommel, Steel Drums)
Tük Music/edel Kultur
55:17
09.06.2023