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Peter Gabriel: i/o

Stil: Art-Pop, Prog-Rock, Singer-Songwriter, orchestraler Pop-Rock

Cover: Peter Gabriel: i/o

Die Älteren unter den Lesern werden sich noch erinnern. Wie das war, als man eine schon am Veröffentlichungstag erstandene Platte zuhause mit vor Aufregung feuchten Fingerchen auspackte; wie die Vorfreude beim Blick auf Cover-Artwork und Credits immer größer wurde; wie man das funkelnagelneue Album auf- beziehungsweise in CD-Zeiten einlegte; und wie man sich gespannt die Frage stellte: Höre ich hier gleich ein Meisterwerk - oder wird das Ding ein Flop? PETER GABRIEL - immerhin einer, der mit seinen 73 Jahren und gut fünf Künstler-Dekaden auf dem Buckel diese schöne Ära der Premiere frischer Musik noch kennt - hat uns bei der Präsentation seines neuen Albums "i/o" solche Fan-Freuden nun vorenthalten. 

Indem der Großmeister des massentauglichen Art-Rock seine zwölf neuen Songs in je zwei (gar nicht mal allzu unterschiedlichen) Stereo-Mixes innerhalb eines Jahres häppchenweise – genau genommen an den Mondphasen orientiert – über Musikplattformen und zum kostenpflichtigen Download via Bandcamp zur Verfügung gestellt hat. Eine originelle Idee von PETER GABRIEL - aber auch eine gute? Wenn "i/o" jetzt als Gesamtkunstwerk auf 2 CDs, zwei Vinylplatten und mit einer zusätzlichen Dolby-Atmos-Bluray im 3-Disc-Set das Licht der Welt erblickt, ist die ganz große Spannung leider futsch. Und es ist auch ein bisschen schade, dass viele Kritiker zuerst über die seltsame Form der Veröffentlichung räsonieren werden. 

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Wer von einem neuen Album (zumal einem, das man noch vor einem Jahr nicht im Geringsten auf dem Zettel hatte) die Wucht der Überraschung erwartet, das faszinierende Momentum eines zukünftigen Pop-Klassikers - der darf sich durch das Brimborium bei „i/o“  ausgebremst fühlen. Denn so sehr man als Fan, der die Vollmond-Veröffentlichungen von PETER GABRIEL seit Januar verfolgte, diesem Dutzend Songs ohne Vorwissen und ohne bereits vorhandene Vertrautheit begegnen möchte - es wird kaum noch gelingen.
Sei's drum. PETER GABRIEL sieht das Ganze positiv: "It’s a little like getting a Lego piece each month" - nun komme die Zeit, das Gesamtbauwerk zu betrachten. Er sei jetzt "sehr glücklich, all diese neuen Songs jetzt zusammen auf dem guten Schiff ‚i/o‘ zu sehen, bereit für ihre Reise hinaus in die Welt“ – so beschreibt der englische Sänger, Songwriter, Komponist und Multiinstrumentalist (eine veritable Progrock-Ikone seit den Frühzeiten von Genesis) des weiteren seine Gefühle für das Album. 
Und er hat auch allen Grund, große Hoffnungen zu setzen und stolz zu sein auf dieses Spätwerk, das viele treue, frustgestählte Fans nach der langen Pause von 20 Jahren von ihrem Helden kaum noch erwartet hatten. Denn „i/o“ ist, das muss man bei aller Skepsis über seine zerstückelte Präsentation zugestehen, eine tolle Platte – vermutlich die zugänglichste und melodisch berückendste von PETER GABRIEL seit seinem kommerziell äußerst erfolgreichen Doppelschlag mit dem eine Pop-Ära definierenden Super-Album "So“ (1986) und dem kaum schwächeren "Us“ (1992). 

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Nicht umsonst riskierte der längst rundlich gewordene, an einen freundlich-souveränen Buddha erinnernde Musiker bei seinen Gigs in diesem Mai/Juni irritierte Publikumsreaktionen, als er mit seiner fantastischen Live-Band aus "So"-Zeiten in der ersten Konzert-Hälfte zehn der damals noch fast völlig unbekannten „i/o“-Lieder aufführte. Nach dem Motto: Schaut her, so kreativ bin ich immer noch, das will ich euch jetzt unbedingt beweisen – Hits  und Gassenhauer wie "Sledgehammer“, "Solsbury Hill“ oder "Don’t Give Up“ könnt ihr dann später noch hören. Was man natürlich gern tat - aber das neue/kommende Material hatte doch bereits nachhaltig beeindruckt.

Denn nach den eher rückbezüglichen Alben "Scratch My Back“/“And I’ll Scratch Yours“ (2010/2013) und dem orchestralen Best-of-Werk "New Blood“ (2011) war ja lange Funkstille (oder sogar Schreibblockaden-Flaute?) bei PETER GABRIEL. Bis er vor ziemlich genau einem Jahr überraschend "i/o“ inklusive großer Tournee ankündigte - eine der am meisten herbeigesehnten Platten des Jahres 2023 stand von da an für ein noch unbekanntes VÖ-Datum im Fan-Kalender. Am 6. Januar wurde "Panopticom" herausgebracht. Ein solider, wenn auch nicht herausragender Start, aber mit einer sensationellen Band-Besetzung, von Manu Katché an den Drums über Tony Levin am Bass bis zu Gitarrist David Rhodes - und Brian Eno an den Keys.

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Fortan stellte PETER GABRIEL Monat für Monat einen neuen Song mit so einfühlsamen wie erhellenden Worten und einem eigenen Artwork vor - Kunst war hier so groß geschrieben, dass man es auch als prätentiös empfinden konnte. Aber die Lieder wurden zum Glück immer besser, die Melodien komplexer, die Texte berührender. Die an das unfassbar schöne "Don’t Give Up“ von 1986 (seinerzeit im Duett Peter Gabriel/Kate Bush) erinnernde Ballade "Playing For Time" war im März für viele Fans das erste atemberaubende Highlight. Später begeisterten Gabriel-Aficionados insbesondere der Titelsong (hymnisch und poppig), "Road To Joy“ (funky und tanzbar), "Love Can Heal" (ätherisch und bittersüß) sowie "So Much" und "And Still" als nachdenkliche Piano-Elegien.
Der sinfonisch aufgeladene Afropop-Gospel "Live And Let Live“ setzte Ende November den emotionalen, zutiefst empathischen Schlusspunkt mit Verweisen auf Friedensmänner wie Martin Luther King und Desmond Tutu: "Lay the burden down/lay the weapons down/it takes courage/to learn to forgive“. Wann, wenn nicht jetzt braucht es solche Musik, mag der versöhnliche Text in vielen Ohren derzeit angesichts von Kriegen und Krisen auch naiv klingen. Die Verbindung jedes Einzelnen mit der Welt um ihn/sie herum ("I’m just a part of everything“, so der Tenor des Songs "i/o“), das Vergehen der Zeit, Trauer und Sterblichkeit, Erschütterung über den Zustand unserer Welt und die furchtbaren Dinge, die in ihr passieren - es wäre nicht der große Pop-Philosoph PETER GABRIEL, wenn hier nicht zu edlen Harmonien die ganz wichtigen, auch traurigen Themen aufgerufen würden. Er kann es halt noch immer.

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FAZIT: Mit "Live And Let Live“ und dem vollen "i/o“-Paket auf CD und Vinyl (maximal 24 Stücke als Bright-Side-Mix von Mark Stent und Dark-Side-Mix von Tchad Blake; der In-Side-Mix in Dolby Atmos von Hans-Martin Buff ist im 3-Disc-Set als Bluray enthalten) endet ein Jahr voller bei Vollmond dargebotener Songjuwelen von PETER GABRIEL. Wegen der den Mund wässrig machenden, gleichwohl irritierenden Präsentationsform bleibt der ganz laute Knalleffekt nun leider aus - man ahnte/wusste halt irgendwie schon, dass dieses Comeback ein sehr gutes wird. Trotzdem wunderbar, diesen großen Künstler wieder in Topform an seiner Seite zu wissen.

Punkte: 12/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.12.2023

Tracklist

  1. <b>CD 1 - Bright Side Mixes
  2. CD 2 - Dark Side Mixes</b> (136:43):
  3. Panopticom
  4. The Court
  5. Playing For Time
  6. i/o
  7. Four Kinds Of Horses
  8. Road To Joy
  9. So Much
  10. Olive Tree
  11. Love Can Heal
  12. This Is Home
  13. And Still
  14. Live And Let Live

Besetzung

  • Bass

    Tony Levin

  • Gesang

    Peter Gabriel

  • Gitarre

    David Rhodes, Katie May

  • Keys

    Peter Gabriel, Brian Eno, Oli Jacobs, Tom Cawley, Don E., Angie Pollock, Richard Chappell

  • Schlagzeug

    Manu Katché, Ged Lynch, Oli Middleton, Richard Russell, Steve Gadd

  • Sonstiges

    Josh Shpak, Paolo Fresu (Trompete), Evan Smith (Saxophon), Linnea Olsson (Cello), Richard Evans (Mandoline), Melanie Gabriel, Ríoghnach Connolly , Jenny Abrahamson (Backing Vocals), Soweto Gospel Choir, Oprhei Drängar (Chorgesang), New Blood Orchestra (sinfonische Arrangements, Leitung: John Metcalfe)

Sonstiges

  • Label

    Virgin Music

  • Spieldauer

    68:09 (Bright-Side-Mixes), 68:34 (Dark-Side-Mixes)

  • Erscheinungsdatum

    01.12.2023

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