„Up“ war das letzte R.E.M.-Album vor der Jahrtausendwende – und damit ihr insgesamt elftes – an dem sich wiederum, wie bereits an „Monster“, allerdings die Geister schieden.
Nach 17 Jahren war Schlagzeuger Bill Berry bei der amerikanischen Erfolgsband ausgestiegen und hinterließ, wie es schien, ein gewisses Loch, das die verbleibenden Buck, Mills und Stipe mit gleich mehreren Drummern zu schließen versuchten, allerdings ohne einen davon als festes Bandmitglied zu etablieren. Bassist Mills meinte dazu: „Als wir die Entscheidung trafen, ohne Bill weiterzumachen, mussten wir das als Befreiung betrachten, warum sonst sollten wir es überhaupt tun. Wir mussten es mit Enthusiasmus und Hoffnung angehen, als eine mutige neue Welt mit unerforschten Möglichkeiten.“
Der musikalische Schwerpunkt von „Up“ lag daher auf den Keyboards, Drumcomputer und Percussion, wobei die Gitarren auf ungewohnte Weise zurückhaltend wirkten. Im Mittelpunkt stand aber wie immer Stipes charismatischer Gesang. Bestes Beispiel hierfür ist bereits der ungewöhnliche, für viele recht befremdliche Einstieg ins Album mit dem Ambient-ähnlichen „Airportman“ sowie dem 'geflüsterten' Gesang. Hier schienen R.E.M. tatsächlich anfangs ein neues Musikkapitel aufschlagen zu wollen.
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Als erstes Album seit „Green“ verfehlte „Up“ die Spitze der britischen Charts – aus kommerzieller wie erfolgreicher Sicht damit auch ein schlechtes Zeichen.
Doch ungeachtet dessen, besitzt „Up“ jede Menge Stärken, das unter einigen Fans für besondere Beliebtheit sorgte. Hier trugen in erster Linie die Balladen bei – so wie der echte R.E.M.-Evergreen „Daysleeper“, aber auch der deutlich von LEONARD COHENs „Suzanne“ inspirierte Song „Hope“. „Suspicion“ klingt sogar nach einer Ballade, die locker auch auf ein Solo-Album von BRYAN FERRY Platz gehabt hätte.
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Doch das war nicht der einzige Musik-Einfluss in Richtung ROXY MUSIC, wobei wir noch einmal bei dem Einstieg ins Album wären.
Besonders verblüffend wirkte tatsächlich der besagte, sehr atmosphärische Start mit dem „Airportman“, der ganz bewusst von R.E.M. mit dieser Absicht an den Anfang von „Up“ gestellt wurde, wozu Sänger Stipe ausführlich bemerkte: „Wir wollten jede Platte mit einem Song oder einer Stimmung einleiten, die den Leuten zeigt, dass sie sich auf etwas ganz anderes einlassen. Wir wollten uns nie wiederholen, und 'Airportman' war in dieser Hinsicht vielleicht unsere radikalste Entscheidung. Aber wir wollten unsere langjährigen Fans wissen lassen, dass wir jetzt zu dritt sind - dass Bill wirklich nicht mehr da ist, und dass wir nicht einfach einen Ersatz-Bill finden wollten, sondern die Gelegenheit nutzen, um neue Wege des Komponierens, Arrangierens und Präsentierens zu erkunden."
Im Grunde klingt aus dem Song der ganze elektronisch verspielte Kreativgeist eines BRIAN ENO, der mit seinen Electronics maßgeblich die ersten ROXY MUSIC-Alben mitbestimmte. Da, wo ROXY MUSIC begannen, schienen R.E.M. nach dem Abgang von Berry hinzuwollen.
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Diese Entscheidung nahmen ihnen zwar einige, sich an R.E.M.-Traditionen klammernde Fans übel, für andere wirkte sie wie der musikalische Befreiungsschlag einer zum Trio geschrumpften Kult-Band. Nicht die von der Gitarre betonten Rock-Momente bestimmen noch die Musik auf „Up“, sondern viel mehr die elektronischen und vom Keyboard ausgehenden. Erstmals werden ernsthafte Erinnerungen an einen BRIAN ENO mit „Up“ geweckt – und das Zielpublikum hinter R.E.M. in diesem Sinne um mehr elektronisch ausgerichtete Zeitgenossen erweitert. Ein mutiger Schritt, der sich leider nicht wirklich auszahlte, da das Album bei dessen Veröffentlichung Ende Oktober 1998 erstmals in den USA und Großbritannien keine Spitzenpostition in den Charts erobern konnte.
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FAZIT: Mit „Up“ nahmen R.E.M. 1998 die radikalste musikalische Veränderung innerhalb ihrer Ära vor, die durch den Ausstieg ihres Schlagzeuger Bill Berry nach 17 gemeinsamen Jahren bedingt war. Sie wollten auf keinen Fall einfach so weitermachen wie zuvor, sondern entschieden sich, nunmehr viel stärker auf die elektronische Komponente ihrer Musik zu setzen und damit deutliche Parallelen zu einem BRIAN ENO herzustellen. Da kommen Erinnerungen an die Momente von U2 auf, als die unter Eno-Federführung mit „Zooroopa“ ihre Fans mit den elektronischen und experimentelleren Spielereien regelrecht vor den Kopf stießen. Zwar ohne Eno, aber mit einer ganz ähnlichen Idee überraschten R.E.M. auf „Up“, das zu seinem Erscheinen 1998 viele Fans der Band verunsichert zurückließ, ein Vierteljahrhundert später aber gerne als zwar das radikalste, doch zugleich auch eins der besten Alben von R.E.M. gelten darf. Die Jubiläumsausgabe „Up – 25th Anniversary Edition“ erscheint nun endlich auch als Doppel-LP auf Vinyl mit einem Textblatt als LP-Einleger. Ein Novum, denn bis dahin waren die Texte von Mike Mills nie auf einem der R.E.M.-Alben offiziell abgedruckt worden, sodass die letzte Zeile von „Up“: „Me. I am free. Free.“, auch symbolisch eine ganz besondere Kraft entfaltet.
<b>PS:</b> Wie gewohnt, gibt’s auch von dieser Album-Neuauflage unterschiedliche Formate.
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Besonders die Deluxe-Ausgabe bietet eine Fülle von Material, darunter auch das bisher unveröffentlichte Set der Band aus ihrem Gastauftritt in der 90er TV-Hitserie „Party of Five“. Der 1999 aufgenommene Auftritt umfasst eine Setlist mit elf Liedern (darunter Klassiker wie "Man on the Moon", "Losing My Religion" und "It's the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)") sowie eine gesprochene Einführung. Die beiliegende Blu-ray enthält HD-Musikvideos des Albums von 1998 ("Daysleeper", "Lotus", "At My Most Beautiful"), eine in einem Londoner Studio aufgenommene Performance mit sechs Liedern aus dieser Zeit (mit dem Titel "Uptake"), das Original-EPK des Albums sowie einen Hi-Resolution- und 5.1-Surround-Sound. Die Sammlung ist in einem 32-seitigen Hardcover-Buch untergebracht und enthält außerdem neue Linernotes von Journalist und Talkhouse Executive Editor Josh Modell (A.V. Club, SPIN, Rolling Stone, Vulture), die neue Interviews mit den Bandmitgliedern enthalten.
<b>Doppel-CD:</b>
= Disc 1 – Up =
1. Airportman
2. Lotus
3. Suspicion
4. Hope
5. At My Most Beautiful
6. The Apologist
7. Sad Professor
8. You're In The Air
9. Walk Unafraid
10. Why Not Smile
11. Daysleeper
12. Diminished
13. Parakeet
14. Falls To Climb
= Disc 2 - Party of Five Recording =
1. Introduction
2. What's The Frequency, Kenneth?
3. Lotus
4. Daysleeper
5. Country Feedback
6. Walk Unafraid
7. Losing My Religion
8. Parakeet
9. The Apologist
10. It's The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)
11. I'm Not Over You
12. Man On The Moon
<b>2-CD + BluRay (Deluxe)</b>
= Disc 1 – Up =
Airportman
Lotus
Suspicion
Hope
At My Most Beautiful
The Apologist
Sad Professor
You're In The Air
Walk Unafraid
Why Not Smile
Daysleeper
Diminished
Parakeet
Falls To Climb
= Disc 2 - Party of Five Recording =
Introduction
What's The Frequency, Kenneth?
Lotus
Daysleeper
Country Feedback
Walk Unafraid
Losing My Religion
Parakeet
The Apologist
It's The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)
I'm Not Over You
Man On The Moon
= Disc 3 – BluRay =
1. Up - 5.1 Surround Sound
2. Up - Hi-Resolution Audio
3. This Way Up (press kit)
4. Uptake (performance)
5. Daysleeper (music video)
6. Lotus (music video)
7. At My Most Beautiful (music video)
Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.11.2023
Mike Mills
Michael Stipe
Peter Buck
Craft Recordings/Concord/Universal Music
64:20
10.11.2023