Überraschend fiel mir das erste Buch von Rick Rubin in die Hände, und ich freute mich auf allerhand Anekdoten aus dem Leben des umtriebigen Musikproduzenten – doch weit gefehlt: Rubin lädt auf rund 400 Seiten zu Achtsamkeitsübungen ein.
Was sich anfangs (wahrscheinlich auch aufgrund meiner Erwartungshaltung) zunächst etwas seltsam liest, entwickelt aufgrund des unaufgeregten, klaren und nach einer Weile fast schon meditativ anmutenden Schreibstils eine eigene Dynamik. Wie diese auf die Leserinnen und Leser wirkt, hängt natürlich von jenen selbst ab. Das weiß auch Rubin, und aus diesem – wie er selbst nicht müde wird zu betonen: begrenzten – Wissen sowie seiner schillernden Lebenserfahrung leitet sich eine Gelassenheit ab, die mit Zielstrebigkeit Hand in Hand geht. Das klingt paradox? Solcherlei scheinbare Widersprüchlichkeit klingt in "Kreativ. Die Kunst zu sein" im Grunde durchweg an, und führt – wie vielleicht auch hier – dazu, dass die Lektüre verwundert, Fragen aufwirft und somit das Bewusstsein schärft. Auch wenn er mit konkreten Vorschlägen wahrlich nicht hinter dem Berg hält, spielt sich Rubin in seinem Ratgeber nicht so selbstgefällig auf wie zahlreiche sich selbst so bezeichnende Coaches und Berater, sondern er stellt fest, dass es (statt dem einen vermeintlich "goldenen") viele Wege gibt, kreativ zu werden, und dass es nicht an ihm ist, diese zu bewerten. Er möchte vor allem ermutigen und inspirieren: Zu mehr Achtsamkeit, in der Folge zu mehr Bewusstsein und letztlich zu mehr Harmonie – nicht unbedingt mit anderen Menschen, sondern mit sich selbst wie mit dem Universum.
Das klingt kitschig? Das wäre es wohl, wenn es dem Produzenten nicht gelingen würde, trotz solcher Allgemeinplätze konkrete Fragen zu stellen und dezidiert Tipps zu geben. Und auch wenn er nur vergleichsweise selten Künstlerinnen und Musiker beim Namen nennt, und anhand von Anekdoten bestimmte Herausforderungen skizziert, so nimmt er gewisse Gefahren doch klar in den Blick, zum Beispiel den fragwürdigen Einfluss von Musikverlagen auf Produktionen:
"Und während wir schon an unserem nächsten Projekt arbeiten, werden vielleicht Stimmen von außen laut, die uns in verschiedenen kreativen Richtungen beeinflussen wollen. Die das Werk sofort einfordern, ohne sich um die Qualität zu sorgen. Wenn sich solche Stimmen – die Sorge um Fristeinhaltung, Geschäftsabschlüsse, Verkäufe, Medienaufmerksamkeit, Image, Personal, Fixkosten, Publikumswirksamkeit, Erhalt des bestehenden Grundstamms an Fans – im Kopf des Künstlers breitmachen, unterminieren sie womöglich seinen Fokus. Die Intention seiner Kunst verschiebt sich dann vom Selbstausdruck hin zum Selbsterhalt. Von kreativen hin zu geschäftlichen Entscheidungen. Um in dieser Phase der künstlerischen Reise das Ruder in der Hand zu behalten, müssen wir unbedingt lernen, abzuschalten, damit sich kein äußerer Druck in unseren inneren Prozess hineinschiebt und die reine Kreativität stört."
Der Vorwurf, dass Rubin als erfolgreicher Produzent gut reden habe, ein Ideal wie "reine Kreativität" einzufordern, liegt auf der Hand (ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Kunst in den allermeisten Fällen gewissen Abhängigkeiten unterliegt und viele Künstler über die Einflussnahme bis Unterstützung durch andere Menschen nicht unglücklich sein dürften).
Doch der Autor lässt die Rahmenbedingungen finanziell alles andere als rosig ausgestatteter Menschen keineswegs aus dem Auge, und ermuntert auch in dieser Hinsicht zu realistischen Einschätzungen und Entscheidungen: Nichts spreche dagegen, einer Arbeit nachzugehen, um mit dem Einkommen daraus eine Grundlage für die Umsetzung der eigenen kreativen Ideen anzusparen. Und ebenso wenig wäre es verwerflich, sich von der Kunst und Musik anderer Menschen begeistern zu lassen, ihre Impulse aufzugreifen und sich in deren Stilistik zunächst zu üben, zum Beispiel, beim Nachspielen eines Musikstücks. Kreativität bedeute nicht, die Kunst- oder Musikwelt mit dem eigenen Schaffen komplett umzukrempeln. Viele innovative Impulse seien das Ergebnis von Zufällen, in Kombination mit Neugier und einer gewissen Experimentierfreude. Und zu solcher Haltung ermutigt Rubin in seinem ersten Buch durchweg: Wenn etwas anders läuft als geplant oder ein Vorhaben misslingt, dann schau trotzdem, ob du daraus nicht irgendetwas für deine Kreativität gewinnen kannst, so sein Tenor. Mit diesem Ansatz ist Rubin selbst alles andere als revolutionär, und so beruhigend vieles beim Lesen auch klingen mag, steht natürlich die Frage im Raum, wie denn die eine oder andere Zusammenarbeit mit der einen Band oder dem anderen Star gelingt – wenn selbigen vieles zunächst misslingt. Doch wie gesagt, solche persönlichen Einblicke in seine Arbeit gewährt der Produzent rein gar nicht.
Wenn er empfiehlt, ein Buch radikal auf seine Kernthesen zu kürzen, um die Essenz herauszuschälen und von unnötigem Ballast zu befreien, dann liegt sein eigenes Werk mit einem Mal allerdings schwer in der Hand: Meint der das ernst…?!
FAZIT: In seinem ersten Buch hält Rick Rubin ein Plädoyer für Achtsamkeit, und ermutigt Leserinnen und Leser u.a. zu einem versöhnlichen Umgang mit den eigenen Bedenken, Sorgen und Ängsten. Wer sich auf den zum Meditativen neigenden Tonfall des Produzenten einlassen kann, findet konkrete Tipps und kurze Anleitungen, um etwaige Blockaden aufzulösen, vermeintlichem Perfektionismus vorzubeugen und sich für Überraschendes zu öffnen. „Kreativ. Die Kunst zu sein“ richtet sich somit an eine breite Leserschaft, ohne dass der Autor aus dem sprichwörtlichen Nähkästchen plaudert, dafür jedoch mitunter ziemlich beliebig schreibt.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 23.07.2023
Rick Rubin
O.W. Barth
414 Seiten
03.04.2023