Bekanntlich hat ein Herz insgesamt vier Kammern, die unerlässlich für den gesamten Körperkreislauf sind. Okay, hier geht’s schließlich nicht um Medizin oder Biologie, sondern um die Musik, progressive noch dazu. Doch verwundert es einen Prog-Freigeist mit medizinischen Grundkenntnissen dann doch, wenn ein Album, auf dessen Front groß ein Herz dargestellt wird, den Titel 'Sieben Kammern' trägt. Dem sollte man dann doch bei „Seven Chambers“, einem durchaus überraschend auftauchendem Lebenszeichen der international hochgradig besetzten UNITOPIA auf den Grund gehen.
Denn dieses UNITOPIA-Herz hatte nach einigen Streitereien zwischen seinen beiden Gründungsmitgliedern Trueack und Timms im Jahr 2014 nach 18 Jahren zu schlagen aufgehört und schlug dann nur noch mit einem Herzlappen jeweils in UNITED PROGRESSIVE FRATERNITY (UPF) und SOUTHERN EMPIRE weiter.
Was war passiert?
Was passiert nun?
Und damit sind wir nach intensivster siebenjähriger progmusikalischer Herzdruckmassage wieder bei UNITOPIA und Trueack sowie Timms angelangt, die zum Glück endlich im Jahr 2021 ihre Streitigkeiten beilegten und sich zusammenrauften, um mit „Seven Chambers“ ein schwer beeindruckendes Prog-Doppel-Album rauszuhauen, dessen Herz lebendiger schlägt, als man sich es hätte jemals vorstellen können.
Woran liegt das nur?
Und warum sieben statt vier Kammern?
Die Lösung auf diese zwei Fragen ist bei genauerem Hinhören und Hinschauen ganz logisch, denn die sieben Kammern stehen für die sieben Songs (allesamt Longtracks zwischen 7 bis 20 Minuten) hinter dieser Doppel-CD. Jeder Song eine Kammer und damit die Grundlage für das Konzept hinter „Seven Chambers“, in dem es sich um schwere Erkrankungen und dem Umgang mit solchen Krankheiten, wie Tumoren, Stoffwechsel-Störungen, Gelenkerkrankungen, psychische Belastungen, Geisteskrankheiten usw., dreht. Zudem zielt es auf schmerzvolle Krankheitserfahrungen, welche einzelne UNITOPIA-Bandmitglieder im Rahmen dieser fiesen körperlichen Leiden bereits am eigenen Leibe ertragen mussten.
Schon hierfür gibt’s einen fetten Pluspunkt, denn dass plötzlich auf so vielen aktuellen Prog-Alben irgendwelche Kosmonauten zu entdecken sind, die sich in fremde (bessere) Welten bewegen, um dort oder auf ihrer Reise immer wieder das Zerplatzen ihrer eigenen Träume verarbeiten zu müssen, wird auf die Dauer doch ziemlich langweilig.
Demgegenüber bleiben UNITOPIA fest mit beiden Beinen auf dieser krank(haft)en Welt verwurzelt und suchen von dort aus, wie beispielsweise in dem herrlich an frühe GENESIS erinnernden Longtrack „Helen“, nach dem Hoffnungsschimmer am Himmel: „You can see me / You will multiply / The light that's in your eyes / Reaching for the sky...“
Doch damit wären wir schon bei der zweiten – zwei epische Longtracks umfassenden CD von „Seven Chambers“ – darum verweilen wir vorerst kurz bei der ersten CD.
Schon im achteinhalb Minuten langen Album-Opener „Broken Heart“ trifft eine illustre musikalische Mixtur aus PROCOL HARUMs „Salty Dog“ sowie frühe GENESIS plus ein floydianisches Gitarrenspiel samt fetter MARILLION-Breitseiten und vorsichtig anklingende traumtheatralische Härte aufeinander. Und damit ist bereits nach einem Song die gesamte Bandbreite dieses unglaublich gelungenen Prog-Albums von UNITOPIA abgesteckt, selbst wenn nach und nach weitere Nuancen – die besonders von dem ekstatischen Geigen- und Flötenspiel eines Steve Unruh sowie breiten Streicher-Orchestrierungen, für die sich John Greenwood verantwortlich zeichnet, geprägt sind – dieses Musik-Herzstück (Es ist doch tatsächlich das beste von UNITOPIA!) zum Schlagen bringen.
Hätte man das dieser Band eigentlich nach so vielen Jahren der Ruhe um sie noch zugetraut?
Dieses THE SAMURAI OF PROG-Gefühl oder Erinnerungen an die Faszination einer der besten und leider zu wenig beachteten amerikanischen Prog-Bands namens DISCIPLINE und natürlich aller Vulkanier-Barträger, denen der Zeitgeist früher Werke ohne Prediger-Morsezeichen ans Herz gewachsen war, werden hier so leidenschaftlich und herzlich geweckt, dass des Proggers Herzen bei jedem Hördurchgang einfach höher schlagen muss.
„Something Invisible“, das mit knapp sieben Minuten kürzeste Stück des Albums, wartet beispielsweise mit einem kurzen und zugleich knackigen Violinen-Solo von STEVE UNRUH, einem der Prog-Samuraien, der nun auch festes UNITOPIA-Mitglied ist, auf, wobei selbst einem David Garrett das Wasser auf seinen Geigensaiten zusammenlaufen sollte. Und es bleibt nicht nur bei einem Solo, sondern schon in „Mania“ erwartet uns das nächste, doch diesmal kombiniert mit knackigen, stellenweise gar humorigen Experimental-Prog-Sounds der frühen SPOCK'S BEARD-Alben (besonders dem Song „The Doorway“).
Aber auch Flöten und Streicher sorgen immer wieder für einen breiten Klang-Kosmos, der sich mal vorsichtig im Hintergrund hält, um dem Gesamt-Sound eine voluminöse Komponente beizufügen, sich aber immer wieder auch in den Vordergrund spielt und mitunter klassische Züge dabei annimmt. Niemals wird es dabei kitschig oder übertrieben aufgeblasen oder symphonisch breitgewalzt. Stattdessen donnert uns „Bittersweet“ sogar soulige, jazzige und zärtlich dem Rap zugewandte Rhythmen um die Ohren. Spätestens hier weiß der geneigte Prog-Hörer, dass UNITOPIA sich in die Spitzenklasse bei der Auswahl des Prog-Albums des Jahres mit „Seven Chambers“ spielen.
Nun könnten die unerbittlichen Prog-Enthusiasten ja behaupten, dass die einzige Schwäche des Albums ist, dass hier die epischen, weit ausholenden Longtracks fehlen.
Etwas Ähnliches werden sich wohl auch UNITOPIA gedacht haben, weswegen es auf „Seven Chambers“ noch eine zweite CD zu entdecken gibt – mit zwei Songs der absoluten Longtrack-Extraklasse, der eine „Helen“, eine Hommage an die Kinderärztin Helen Brooke Taussig (1898-1986) mit realem Hintergrund, entfaltet seine ganze Schönheit und Melancholie über gut 19 Minuten und der andere „The Uncertain“, über die Schrecken des Krebses und der damit verbundenen Isolation, kratzt ebenfalls an der 19-Minuten-Marke.
Sogar eine Flamenco-Gitarre darf sich musikalisch ausbreiten und vieles erinnert stark an die Longtracks aus dem Hause FISH und MARILLION oder eben SPOCK'S BEARD und immer wieder und wieder und wieder an THE SAMURAI OF PROG sowie einer gehörigen Folk-Rock-Prise aus dem Hause BIG BIG TRAIN.
Wer hier als progressiver, auch für andere Genre guter Rockmusik offener Freigeist nicht schwach (und bei dem gewählten Konzept zugleich traurig) wird, der hat sich entweder nicht genug Zeit für die gut 80 UNITOPIA-Minuten sowie das Text-Konzept plus die ansprechende Gestaltung des Digipaks samt des 20-seitigen Booklets von ED UNITSKY genommen oder ist mit dem wahrhaft extrem intensiven Abwechslungsreichtum von „Seven Chambers“ überfordert.
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FAZIT: Hier kommt ein definitives Prog-Highlight des Jahres 2023 aus dem Hause UNITOPIA. Ja, richtig gelesen! Denn eigentlich hatten sich die Mannen um ihre Gründer Mark Trueack und Sean Timms nach 18 gemeinsamen Prog-Jahren im Jahr 2014 – wohl ziemlich zerstritten – aufgelöst und sich beispielsweise mit UPF und SOUTHERN EMPIRE neue progrockige Spielwiesen gesucht. Plötzlich und unerwartet sind sie – verstärkt durch solche Musikergiganten wie Chester Thompson oder John Greenwood und Alphonso Johnson sowie den Samurai-Tausendsassa Steve Unruh wieder zurück und hauen ganz locker mit „Seven Chambers“ eine Konzept-Doppel-Album, welches das bedrückende Thema unterschiedlicher Krankheiten zum Inhalt hat, raus, das sich, besonders auch seiner herrlich breit aufgestellten Genre-Wechsel und -Wilderei wegen, sofort Richtung Spitzenposition der Prog-Alben des Jahres 2023 orientiert.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.11.2023
Alphonso Johnson
Mark Trueack
John Greenwood, Steve Unruh
Sean Timms
Chester Thompson
Steve Unruh (Geigen, Flöten, Mandoline, Hintergrundgesang), Sean Timms (Streichinstrumente, Hintergrundgesang), John Greenwood (Orchestrierung, Mandoline, Hintergrundgesang)
Progrock Essentials/Just For Kicks
82:33
29.09.2023