Mit Tieren kennt sich die mittlerweile in Skandinavien lebende kanadische Musikerin WENDY MCNEILL bestens aus. Bereits ihr 2004er Album nannte sie „Such A Common Bird“ - und schon damals kam erstmals das Thema der mythologischen Tierwelt zum Tragen, mit dem sich die Künstlerin im Folgenden immer wieder gemein machen sollte. Es war dann aber ihr 2011er Album „For The Wolf, A Good Meal“, mit dem sie sich mehr oder minder im Klartext dem Fabel-Thema zuwandte. Dieses Thema ließ sie seither nicht mehr los. Auf ihrem 2014er Werk „One Colour More“ fand sich der Track „In Bocca al Lupo“ („Im Mund des Wolfes“) und das 2018er Album „Hunger Made You Brave“ war dann gar eine Fortsetzung des Wolf-Albums; wobei hier neue musikalische Mittel und wesentlich stärkere mythologische Bezüge (etwa auf den griechischen 'Laelaps' oder den nordischen 'Fenrir') zum Tragen kamen. WENDY MCNEILL erklärte damals, mit diesem Album ihren kreativen und mythologischen Hunger stillen zu wollen.
Einige Naturkatastrophen später hat WENDY MCNEILL nun in den Vögeln ein neues Symbol mit über die reine Fabelfunktion hinausgehender spiritueller, mythologischer, philosophischer und poetischer Bedeutung gefunden. Diese vier Begriffe umreißen dann auch die Landmarken, an denen sie sich als Songwriterin – zumindest ihre Texte betreffend – orientiert.
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Es war ein Waldbrand, der die Gegend um ihr Haus zerstörte, der sie auf die Idee brachte, die resiliente Vogelwelt als Sinnbild für die zerstörerische Beziehung der Menschheit mit der Natur zu wählen. Ausgehend vom Bild des Ikarus, der mit seinen Flügeln aus Wachs der Sonne zu nahe kommt und in den Tod stürzt, spinnt WENDY MCNEILL ein vielschichtiges Gewebe aus 'Mythen und Erinnerungen' (wie es in der aktuellen Bio nicht ganz unzutreffend heißt), mittels derer sie viele Verbindungen zwischen Menschen und Vögeln aufdeckt und einige grundsätzliche Erkenntnisse zu Tage fördert.
In dem Song „The Reckoning“ etwa kommt sie zu dem Schluss, dass unser Fortschritt stets auf Kosten der Natur zustande kommt. Die Vögel, die als erste vor sich ankündigenden Katastrophen warnen und als erste wieder auftauchen, wenn diese vorüber sind, sind dabei ein Sinnbild für Widerstandskraft und Wiedergeburt (auch so ein Thema, das WENDY MCNEILL gerne regelmäßig aufgreift).
In immerhin 18 Stücken – von denen einige als Instrumentals, einige als klangliche Zwischenspiele und einige als poetische Rezitative angelegt sind (richtig singen möchte WENDY MCNEILL immer weniger, wie es scheint) – macht sich WENDY MCNEILL ihre Gedanken zu den sich aufdrängenden existenziellen Fragen unserer Zeit, indem sie die Vögel dabei als Medium ihrer Betrachtungen ausweist. Wie so oft in ihrem Wirken kommt die Auflösung dann in Form eines abschließenden Walzers namens „Swallow, Dear Swallow“ daher, in dem die emsigen Schwalben als Sinnbild für die Unverwüstlichkeit von Vogelwelt und Menschheit interpretiert werden könnten.
Musikalisch war die Sache früher einfacher für die Musikerin: Zu Beginn ihrer Laufbahn machte die Folksongs – oft im Walzer-Rhythmus – mit ihrem damaligen Hauptinstrument, dem Akkordeon. Der Walzer war dabei eine „Methode, sich durch dunkle Gewässer zu bewegen“, bemerkte sie damals.
Heutzutage ist die Sache komplexer, auch weil einfach alles andere komplexer geworden ist. Während der abschließende, fast 10-minütige Schlüsseltrack „Swallow, Dear Swallow“ tatsächlich wieder ein Walzer auf Akkordeonbasis geworden ist (der mit Bläsern und singender Säge auf ein psychedelisches Level gehievt wird), gibt es ansonsten keine stilistischen oder musikalischen Grenzen, außer der, dass kein Raum für digitale Spielereien vorhanden ist.
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FAZIT: Alles, was WENDY MCNEILL musikalisch implementiert, muss organischen und/oder analogen Ursprungs sein – und das kann vom einsamen E-Piano über ein unkonventionell implementiertes Mellotron, kammermusikalische Streicher, archaischer Perkussion, Melodika, einsamem Pfeifen bis hin zur kompletten Jazz- oder Indie-Rock-Combo so ziemlich alles sein. In musikalischer Hinsicht ist „First There Were Feathers“ WENDY MCNEILLs ambitioniertestes Album geworden, mit dem sie sich als Künstlerin am weitesten von dem entfernt, was sie ursprünglich als Folk-Musikerin darstellte. Freilich: Leichte Unterhaltungskost bietet das 2023er-Album aufgrund seiner Vielschichtigkeit und komplexen musikalischen Querverbindungen nicht, aber es lassen sich in Tracks wie „Albatross“ oder „Prometheus Please“ konventionelle Songstrukturen entdecken – im Wesentlichen ist „First There Were Feathers“ aber poetische Klangkunst auf höchstem Niveau.
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Punkte: 10/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 25.05.2023
Wendy McNeill
Roots And Ramblers Music
59:20
26.05.2023