Ganz pünktlich zur offiziellen Album-Veröffentlichung von „Cousin“ aus der Hand, dem Kopf und dem beinahe genialen Geiste der 1994 aus UNCLE TUPELO hervorgegangenen Band WILCO, eines der größten Folk-Bands mit Hang zu völlig wechselhaften anderen Musik-Stilen (Indie-Pop, Alternative- und Kraut-Rock, Country, Sixties- & Seventies-Sounds, Americana usw.), veröffentlichte mein lieber Kollege Werner Herpell <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2023/Wilco/Cousin/" target="_blank" rel="nofollow">eine leidenschaftliche und begeisterte Review zu diesem tatsächlich außergewöhnlich gelungenem Album</a>.
Da man jedoch auf keinen Fall übersehen sollte, dass es zu „Cousin“, dem 13. WILCO-Album insgesamt, nunmehr auch die Vinyl-Variante gibt, die einem eindrücklich bewusst macht, dass WILCO mit ihrem Retro- und Zukunfts-Sound typisch amerikanischer Prägung sowie den deutlich (kritischen) Singer/Songwriter-orientierten Texten zugleich unbedingt auf Platte gehören, hier der Verweis auf die beeindruckende Vinyl-Ausgabe, bei der man bei der LP-Covergröße zugleich die gestalterische Größe dieser ungewöhnlichen, wie gemalten und von Eiszapfen übersäten Pflanze auf dem Frontcover erkennen kann, welche im Verhältnis mit der Musik dahinter eine starke Symbolkraft in sich trägt – so in der Art: „Es ist verdammt eisig geworden – und wenn wir das weiter zulassen, dann haben wir wie die Natur- und Pflanzenwelt nicht nur mit Eiszapfen zu kämpfen, sondern der Frost wird uns alle irgendwann erdrücken!“
Im klimatischen wie im persönlichen Sinne.
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So versteht man diesen familiären Bezug im Albumtitel auch erst, wenn man der weit ausgelegten Tweedy-Erläuterung folgt, die nicht nur familiär, sondern gleich weltumgreifend verstanden werden soll – darunter macht es ein Jeff Tweedy eben nicht.
Doch einer wie er kann sich das echt leisten, ohne als nörgelnder oder weltverbessernder Spinner abgetan zu werden: „Ich bin der Cousin der Welt. Ich fühle mich nicht wie ein Blutsverwandter, aber vielleicht bin ich ein angeheirateter Cousin.“
Wäre solch ein Blickwinkel nicht für uns alle gut, wenn wir diese Welt als eine Familie statt einer zerklüfteten, von Kleinkriegen übersäten Erde betrachten würden, in der nach schrecklich darwinistischen Gesetzen jeder glaubt, dass nur der Stärkere siegt, während man auf die Schwächeren seinen dicken braunen Haufen exkrementiert?
WILCO jedenfalls glauben das nicht und machen mit ihrer Musik und den dahinter verborgenen oder offenen, einen nachdenklich machenden, Botschaften diese 'familiär verstandene' Welt einfach ein bisschen besser, bis der nächste kleingeistige, machthungrige Trampel das sorgfältig gekittete Porzellan wieder wie besagter Elefant im Porzellanladen – den wir einfach mal Welt nennen – niedertrampelt.
Spätestens hier hilft im Grunde schon die Erkenntnis des krautigen Album-Openers „Infinite Suprise“: „It's good to be alive / It's good to know we die“.
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Nimmt man sich dann die Texte, welche man neben der Großaufnahme eines Details des Covers, alle auf der bedruckten Innenhülle findet, zur Hand, wird man nicht nur von der Musik, sondern auch der lyrischen Sprachkraft eines Jeff Tweedy, dem Gitarre spielenden und singenden Kopf hinter WILCO, gefangengenommen.
So wird das geheimnisvoll-verklausulierte, todtraurige „Soldier Child“, in dem die Gefühle eines von Drogenerfahrungen geplagten Soldaten beschrieben und besungen werden, der sein (wohl ebenfalls drogensüchtiges) Kind in dem Bewusstsein wiedertrifft, bald erneut ins Feld ziehen zu müssen und damit eine ganz andere, oft außer Acht gelassene Misere und Sinnlosigkeit des Krieges beleuchtet, in der man oft nur die Toten und Verletzten zählt, nicht aber die (von Drogen) zerstörten Seelen der Kinder und Angehörigen, die in der Hoffnung zu Hause ausharren, ihren Vater, Bruder, Mann, Sohn, Freund lebend wiederzusehen statt in einem Leichensack. Weit ausholende Gedanken, die dieser Text zulässt, selbst wenn diese vielleicht sogar ein wenig übers Ziel hinausschießen. Und genau das ist die Kunst guter Lyrik bzw. guter Songs, von denen Texter Tweedy gleich zehn auf dieser Platte unterbringt.
Zuvor verstand einen bereits am Ende der LP-A-Seite „Sunlight Ends“ zu begeistern, das ganz ähnlich auch auf einem Album von JOHN LENNON eine sehr gute Figur abgegeben hätte – wie überhaupt so einigen Songs von „Cousin“ ein charmantes BEATLES-Feeling innewohnt.
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Ganz ähnlich wie die LP-A-Seite endet, beginnt die B-Seite mit „A Bowl And A Pudding“, ein Song, der immer mehr ins Psychedelische abrutscht und alle „Revolver“-Seelen bedient. Ein herrliches Stück, das sich zwischen Traum und Wahn – auch vom Text her – bewegt, um am Ende zu dem traurigen Schluss zu gelangen: „And the one / You love / Is not me“.
Man muss nicht, wie zuvor auf „Ten Dead“ (dem Song über die irre Waffenlobby Amerikas und deren Folgen) besungen, gleich zehn Tode sterben, um dieses WILCO-Album als eins der stärksten ihrer Band-Karriere anzusehen. Ähnlich verspielt und wechselhaft wie das großartige „Yankee Hotel Foxtrot“ von vor genau 21 Jahren.
„Cousin“ erscheint wie die späte Fortsetzung dieses Meisterwerks, das sich eben nicht in Country- und Americana-Klängen, wie beispielsweise der Vorgänger „Cruel Country“, suhlt, sondern zu einem kreativen (mitunter sogar psychedelischen) Rundumschlag durch die besten Musik-Ideen des fast 30-jährigen WILCO-Musik-Kosmos ausholt.
Da passt am Ende der extrem verstörende, tickende, im krautrockenden Shoegaze angesiedelte Album-Anfang von „Infinite Sunrise“ (samt brachialem Song-Ende) nur zu gut und schließt den Kreis von „Cousin“, den man ebenso gerne in seine heimische LP-Musikfamilie aufnimmt und ganz bestimmt des Öfteren wieder hervorholen wird, um diesem absolut gelungenem WILCO-Werk wieder und wieder zu lauschen.
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FAZIT: Wenn unser Kollege Herpell bei WILCO von 'der besten, virtuosesten, beständigsten Rockband der Welt' spricht, dann möchte man ihm bei so viel Übermut und Überschwang sofort vorwurfsvoll zurufen: „Übertreibung!“ Doch das wäre nur möglich, wenn man zuvor nicht deren aktuelles, unglaublich rundum progressives (Bitte nicht als Progressive Rock verstehendes) Album „Cousin“ gehört hätte – eins (auch dank der maßgeblichen Mitwirkung von CATE LE BON als Produzentin und enger Freundin sowie Ratgeberin Tweedys) der besten ihres insgesamt 13 Alben umfassenden Katalogs, das man natürlich unbedingt als die hier besprochene Vinyl-Variante besitzen sollte, damit man ein weiteres Meisterwerk neben beispielsweise seinen BEATLES-Platten oder denen eines BEN FOLDS oder EELS platzieren kann. Volle Zustimmung also: WILCO ist die beste, virtuoseste, beständigste Rockband der Welt!
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.10.2023
John Stirratt, Cate Le Bon
Jeff Tweedy
Nels Cline, Jeff Tweedy, Pat Sansone
Mikael Jorgensen, Pat Sansone, Cate Le Bon
Glenn Kotche
Cate Le Bon, Pat Sansone, John Stirratt (Backing Vocals), Euan Hinshelwood (Saxofon)
dBpm Records/Sony Music
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29.09.2023