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Wilco: Cousin

Stil: Folkrock, Sixties-Pop, Gitarrenrock, Singer-Songwriter, Countryrock, Folktronica, Barock-Pop

Cover: Wilco: Cousin

„Die beste (Live-)Band der Welt“ - so wurden WILCO gerade erst wieder vom renommierten Musikmagazin „Mojo“ anlässlich eines fantastischen Londoner Konzerts geadelt. Und die UK-Kollegen fanden durchaus gute Gründe für ihre sehr grundsätzliche Schwärmerei.

Nun kann man über solche Zuschreibungen natürlich immer geteilter Ansicht sein, und manches ist auch Geschmackssache. Aber dass WILCO spätestens seit ihrer Serie von Meisterwerken in den 1990er und Nuller-Jahren zu den ganz großen Folkrock-Bands und Stil-Erneuerern unserer Zeit gehören, steht wohl außer Frage. Das neue Album „Cousin“ verstärkt nun eher noch den Eindruck, dass dieses Sextett auch nach Jahrzehnten höchster Qualität immer noch glanzvolle, spannende Musik in Serie produzieren kann.

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Dabei füllen WILCO keine Stadien (sondern 'nur' mittlere bis große Hallen). Sie haben keine Hits (weil sie es mit ihren nie auf den Kommerz schielenden Single-Auskopplungen auch kaum darauf anlegen). Und sie versprühen keinen Glamour (außer vielleicht den von netten Normalo-Kumpels, die optisch ganz unspektakulär daherkommen, aber wahrlich spektakuläre Platten machen).

Für das 13. Album der US-Band aus Chicago/Illinois könnten nicht nur die langjährig begeisterten Rock-Experten wieder nach Superlativen suchen. Denn "Cousin" ist ein dermaßen schönes, zugängliches und zugleich wagemutiges Meisterwerk geworden, dass es auch langjährigen WILCO-Kennern oft die Sprache verschlägt. 

Prächtige Melodien und tiefschürfende Texte, fabelhaft einfallsreiche Arrangements und tolle experimentelle Ausbrüche, die man einer seit insgesamt 30 Jahren existierenden, davon zwei Jahrzehnte in derselben Besetzung spielenden Band eigentlich gar nicht mehr zutraut - es ist erstaunlich und faszinierend zugleich, und das nur wenige Monate nach dem gemütlicheren, gleichwohl ebenfalls herausragenden Folk-/Countryrock-Vorgänger "Cruel Country" (2022).

Jeff Tweedy, der 56 Jahre alte Gründer, Sänger und Songwriter von WILCO und deren uneingeschränktes Zentrum und Sprachrohr, hatte im Vorfeld der "Cousin"-Veröffentlichung von einer mysteriösen, im Studio ausgetüftelten "Artpop-Platte" gemunkelt, die wegen des unmittelbareren, lässigen Charakters von "Cruel Country" dann aber zunächst auf Eis gelegt wurde. Dieses Album hat die Band nun fertiggestellt - womit sich auch die Produktionsdaten 2019-2023 erklären. 

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Im Chicagoer Aufnahmestudio The Loft mischte bei den "Cousin"-Sessions von Anfang an die junge walisische Multiinstrumentalistin Cate Le Bon mit - vom Bandboss persönlich eingeladen, für WILCO zugleich eine unerwartete Rückkehr zu fremder Produktions-Hilfe nach 20 Jahren Tweedyscher Eigenbrötelei. Dass angesichts der Freigeistigkeit und der stilistischen Offenheit dieser zehn Songs ein würdiger Nachfolger für legendäre, unkategorisierbare Werke wie "Yankee Hotel Foxtrot" (2002), "A Ghost Is Born" (2004) oder "The Whole Love" (2011) vorliegt, wird viele Fans freuen, die Wilco schon lange als die amerikanischen Radiohead feiern und diese kühne Experimentierfreude zuletzt ein wenig vermisst hatten. (Auch wenn Klasse-Alben wie "Ode To Joy" von 2019 oder besagtes "Cruel Country" natürlich immer noch weit genug weg waren vom Folkrock- und Singer-Songwriter-Mainstream.)

"Das Erstaunliche an Wilco ist, dass sie alles sein können", sagt die von Tweedy seit einem gemeinsamen Festival 2019 hochgeschätzte "Cousin"-Produzentin Le Bon. "Sie sind so wandelbar, und es gibt diesen Faden der Authentizität, der sich durch alles zieht, was sie tun, egal welches Genre, egal wie die Platte klingt. Es gibt nicht viele Bands, die in der Lage sind, die Dinge erfolgreich zu verändern, obwohl sie so lange in einer herausragenden Karriere stecken." 

Die gegenseitige Zuneigung der hochtalentierten Britin und der erfahrenen US-Amerikaner ist in jeder Sekunde eines gemeinsamen Albums spürbar, das sich am Jahresende auf vielen Bestenlisten wiederfinden wird. Aber was macht nun den ganz besonderen Zauber von "Cousin" - auch innerhalb des qualitätvollen WILCO-Gesamtkatalogs - aus? 

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Es ist wohl die perfekt ausgewogene Mixtur aus folkiger Harmonie und Gitarren-Noise, gekrönt von Tweedys tief berührender Stimme, wie im grandiosen Opener "Infinite Surprise". Oder die beatleske Erhabenheit des zweiten Tracks "Ten Dead", in dem der Sänger seine Erschütterung über die Empathielosigkeiit vieler Amerikaner trotz so unfassbar vieler Schusswaffenopfer schildert. Ein politischer Song ohne platte Polemik - ja, so kann man das machen. 

Auch "Levee" ist so ein Musterbeispiel für höchste Kompositions- und Produktionskunst - wieder lässt Tweedy die vorhersehbare Melodie links liegen und gerät doch nie in den Verdacht, hier abgehobene Kunst-Kacke zu produzieren. "Evicted" ist (neben dem wunderbaren Sixties-Pop-Track "Soldier Child" kurz vor Schluss des Albums) eines von wenigen Liedern, die auch auf dem rustikaleren WILCO-Vorgänger "Cruel Country" ihren Platz gefunden hätten. 

Weitere Highlights eines an Höhepunkten fast überreichen Albums sind das spätsommerlich melancholische "Sunlight Ends", das verspielte, ins Jazzige mäandernde "A Bowl & A Pudding" (wie auch andere neue Stücke eine Plattform für die Sonderklasse des WILCO-Gitarrengroßmeister Nels Cline), und das magische "Pittsburgh", das zwischen zartestem Folk im Stil von Nick Drake und ambitioniertem Prog-Rock oszilliert. Mit "Meant To Be", das noch einmal an die Verbundenheit mit den "Fab Four" oder The Byrds erinnert, klingt ein famoses Werk der (hoffentlich) mittleren WILCO-Karrierephase aus. 

Tweedy, Cline sowie Mikael Jorgensen (Keyboards), Pat Sansone (Gitarre, Keyboards), Glenn Kotche (Schlagzeug) und John Stirratt (Bass) haben sich mit "Cousin" ein weiteres Mal selbst übertroffen. Wieder testen die sechs Virtuosen hier Grenzen eines zeitlosen, melodischen Folkrock aus - und wecken Vorfreude auf ihre nächsten Gigs, bei denen die neuen Lieder einem Live-Test unterzogen werden, um als Klassiker im riesigen WILCO-Repertoire weiterzuleben. 

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FAZIT: Die beste, virtuoseste, beständigste Rockband der Welt? Ganz schön viele Lorbeeren für ein Projekt, das schon 30 Jahre auf dem Buckel hat und daher nicht unbedingt immer noch relevant sein muss. Aber in diesem Fall und angesichts des grandiosen, mutigen neuen Albums „Cousin“ sind sie gar nicht mal übertrieben, diese Gütesiegel. WILCO waren, sind und bleiben ein Rock-Phänomen.

Punkte: 14/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 28.09.2023

Tracklist

  1. Infinite Surprise
  2. Ten Dead
  3. Levee
  4. Evicted
  5. Sunlight Ends
  6. A Bowl And A Pudding
  7. Cousin
  8. Pittsburgh
  9. Soldier Child
  10. Meant To Be

Besetzung

  • Bass

    John Stirratt, Cate Le Bon

  • Gesang

    Jeff Tweedy

  • Gitarre

    Nels Cline, Jeff Tweedy, Pat Sansone

  • Keys

    Mikael Jorgensen, Pat Sansone, Cate Le Bon

  • Schlagzeug

    Glenn Kotche

  • Sonstiges

    Cate Le Bon, Pat Sansone, John Stirratt (Backing Vocals), Euan Hinshelwood (Saxofon)

Sonstiges

  • Label

    dBpm/Sony

  • Spieldauer

    42:35

  • Erscheinungsdatum

    29.09.2023

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