In ihrer kanadischen Heimat ist die Songwriterin ABIGAIL LAPELL bereits seit 2011 aktiv und hat dortselbst 2014 und 2020 auch schon zweimal den renommierten Canadian Folk Music Award (eine Art „kanadischer Grammy“ für Folk-Künstler) für ihre Alben „Hide Nor Hair“ und „Getaway“ einheimsen können. Dass sie in unseren Breiten noch nicht so bekannt ist, liegt einerseits daran, dass es hier keine klassische, akademisch geleitete Folk-Szene gibt (aus der Lapell ursprünglich hervorging) sowie andererseits daran, dass ihre Alben erst seit <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2022/Abigail-Lapell/Stolen-Time/" target="_blank" rel="nofollow">dem 2022er Werk „Stolen Time“</a> offiziell auch in Deutschland vertrieben werden und sie es bislang noch nicht als Headliner auf unsere Bühnen geschafft hat.
Mit ihrem nun vorliegenden, fünften Album „Anniversary“ könnte sich das durchaus ändern, denn hier setzt ABIGAIL LAPELL in musikalischer und produktionstechnischer Hinsicht neue Maßstäbe. Von der reinen Folk-Lehre hat sie sich schon länger gelöst und setzt heutzutage auf einen gesunden Mix aus klassischen Folk- und Folkpop-Songs, Indie-Rock, einer Spur Blues und gepflegten Torchsong-Balladen mit stark erzählerischem Charakter. Sie selbst nennt das ganze einen „Folk-Indie-Rock-Hybrid“ - etwas also, das für Americana- und Indie-Freunde gleichermaßen von Interesse sein könnte.
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Für die Produktion des Albums tat sich ABIGAIL LAPELL mit ihrem kanadischen Kollegen TONY DEKKER zusammen, der mit seinem (auch bei uns erfolgreichen) Projekt GREAT LAKE SWIMMERS insofern Musikgeschichte geschrieben hat, als dass er sich für die Produktion seines Materials auf ungewöhnliche Aufnahme-Orte, wie zum Beispiel eine Höhle, ein Getreide-Silo oder eine Scheune spezialisierte. Deker war es dann auch, der vorschlug, Lapells neue Songs in einer Kirche einzuspielen und zu produzieren. Neben eines ganz besonderen Raumklanges, welcher der Musikerin gesanglich einiges abverlangte, brachte dies zusätzlich besondere produktionstechnische Anforderungen mit sich – wie etwa das Errechnen und Einbeziehen des natürlichen Halls der Kirche in die Performance und Produktion, was beispielsweise dazu führte, dass einige Tracks in der Geschwindigkeit dem Hall angepasst werden mussten.
ABIGAIL LAPELL machte dann zwei Themen zum Leitmotiv für die Produktion. Zum einen ging es ihr darum, die Songs unter dem im Titel des Albums genannten Begriff „Anniversary“ zusammenzufassen. Im englischen Sprachgebrauch bezeichnet „Anniversary“ dabei sowohl „Geburtstag“ wie auch „Jahrestag“, wobei Lapell ausdrücklich beide Bedeutungen mit einbezogen wissen wollte; beispielsweise indem sie sowohl den Jahrestag des Todes ihres Vaters wie auch tatsächliche Geburtstage im Familienkreis referenziert.
Der andere Aspekt, der ihr am Herzen lag, war der Umstand, dass sie in den Songs nicht nur ihre Erinnerungen an bestimmte Ereignisse verwalten, sondern die verschiedenen Aspekte der Liebe in all ihren Formen beleuchten wollte. Laut eigener Aussage handelt es sich daher auch um eine Sammlung von Liebesliedern, die aber – über den Umweg des „Anniversary“-Themas – nicht alleine die idealisierte Form der romantischen Liebe betrachten, wie sie normalerweise zum Thema von Liebesliedern gemacht wird, sondern auch andere Aspekte, die sie selber beispielsweise als „spooky“ oder „dysfunktional“ bezeichnet.
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Wie bereits erwähnt, sprengt der musikalische Rahmen des Projektes das ursprüngliche Folk-Konzept dann weitestgehend. Der Begriff 'Folk' bezieht sich nun nicht mehr auf den klassischen Gesangsvortrag zur akustischen Gitarre, sondern auf Folk-Traditionen wie z.B. den Chorgesang im 'Call & Response'-Verfahren, wie er etwa in Songs wie „Count On Me“, „Rattlesnake“ oder „Flowers In My Hair“ zum Tragen kommt, die dann durch das Kirchen-Setting und die Tatsache, dass alle Musiker sich gesanglich betätigten, zusätzlich einen gewissen Gospel-Touch mit sich bringen. Hier agieren dann auch die GREAT LAKE SINGERS als Gast-Vokalisten.
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Andererseits gibt es eher strukturell Rock-orientierte Songs, wie „Anniversary Song“, „Someone Like You“, „Wait Up“ oder „Rattlesnakes“, die – mal mehr oder minder nachdrücklich und laut – mit elektrischen Gitarrensounds und teils einer Prise Blues den Folk-Aspekt in den Hintergrund drängen. Und dann sind da noch die erwähnten Balladen „Footsteps“, „Blue Blaze“ oder „3am“, die in ihrer sanftmütigen Larmoyanz an die elegischen Epen einer NATALIE MERCHANT erinnern, da ABIGAIL LAPELLs Timbre besagter Musikerin ähnelt und sie mit der gleichen gesanglichen Gelassenheit agiert.
In TONY DEKKER von den GREAT LAKE SWIMMERS fand ABIGAIL LAPELL dabei einen Partner, dem sie – wie sie selber sagt – in besonderer Weise vertrauen konnte. So waren es aber nicht alleine Dekkers Fähigkeiten als Tontechniker, Arrangeur, Produzent und Gast-Sänger, sondern die langen Gespräche über den Hintergrund und das Wesen der Stücke, die beide im Vorfeld der Produktion führten, welche sich maßgeblich auf den Tenor und die Atmosphäre dieser Produktion auswirkten.
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FAZIT: Insgesamt entfernt sich ABIGAIL LAPELL mit ihrem aktuellen Album „Anniversary“ weiter denn je von ihren ursprünglichen, puristischen Folkroots und bietet ergo auch für Freunde von Americana- und Indie-Rock-Sounds einiges, was in diesem Zusammenhang nicht unbedingt zu erwarten gewesen wäre. Hierbei sieht sich die Kanadierin selbst vor allem als Singer/Songwriterin statt als eine Musikerin, die sich bestimmten Stilen verpflichtet fühlt, sodass die zu erzählenden Geschichten und der Gesang auf diesem Album vorrangig im Zentrum aller Songs steht.
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<b>PS:</b> Sollte jemand darüber nachdenken, ob er sich „Anniversary“ doch besser als die LP-Ausgabe anschaffen sollte, dann fällt die Entscheidung von der Optik her sehr leicht, denn die limitierte Version kommt in aquamarinblauem Vinyl daher, welches genau die Farbe aufweist, welche die Schlangen tragen, die das Albumcover umrahmen. Von der Haptik her hat das Album wiederum nicht ganz so viel zu bieten, denn es enthält nur eine einfaches (also kein aufklappbares) Cover und auch eine bedruckte LP-Innenhülle oder einen LP-Einleger gibt es leider nicht, was gerade darum traurig ist, da eben auch die sehr guten Texte der kanadischen Songwriterin zum Mitlesen fehlen. Der Sound ist wiederum sehr gelungen und bestens für eine hochwertige Anlage geeignet. Und die 'Vinylos' unter uns greifen sowieso auf die gerillte Variante dieses gelungenen, ungemein abwechslungsreichen ABIGAIL LAPELL-Albums zurück!
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 12.05.2024
Abigail Lapell, Tony Dekker
Abigail Lapell, Tania Gill
Dan Fortin
Jake Oelrichs
Rachel Cordiello (Viola), Michael Davidson (Marimba, Vibraphon), Rebecca Hennessy (Trompete)
Outside Music
39:28
10.05.2024