<img src="http://vg07.met.vgwort.de/na/c39ea4d749f44015bcabd514d7ec578e" width="1" height="1" alt=""> Wer CHELSEA WOLFEs Aufstieg in den letzten knapp anderthalb Jahrzehnten mitverfolgte, dürfte zu keiner Zeit auf die Idee gekommen sein, die Singer-Songwriterin sei eine gehypte Mogelpackung. Ihre Kooperationen in jüngerer Zeit - unter anderem mit Converge und Xiu Xiu, der "X"-Filmsoundtrack mit Tyler Bates oder das Projekt Mrs. Piss mit Schlagzeugerin Jess Gowrie - unterstreichen die Vielseitigkeit und den Schaffensdrang der heute 40-Jährigen… und "She Reaches Out To She Reaches Out To She" zeigt wieder eine andere Seite von ihr, was in Hinblick auf die Hauptthemen der Songtexte umso mehr Sinn ergibt: Wolfes siebtes Studioalbum ist so wenig Rock und Metal im herkömmlichen Sinn wie keines ihrer bisherigen Werke, aber nicht minder finster und doch zugleich nicht ohne einen sprichwörtlichen Silberstreif am Horizont.
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Es geht um die vielen Ichs jedes Menschen und ihre Versöhnung miteinander, wobei die Amerikanerin betont, dieser Tage sei Selbstreflexion wichtiger denn je, um kein von außen gelenktes Leben zu führen beziehungsweise einen Weg einzuschlagen, den man lediglich meint, gehen zu wollen.
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Auf der musikalischen Ebene äußert sich diese in einem detailreich verschnörkelten Hybriden aus elektronischer Musik und Rock-Instrumentierung; Piano und Streicher, abenteuerliche Loops und Synthesizer-Sounds ergeben ein ungemein dichtes Klangbild, über dem Wolfes Stimme unmittelbarer und natürlicher denn je schwebt. Stilistisch fühlt man sich manchmal an Massive Attack, Portishead, Goldfrapp oder Christine and the Queens erinnert, doch im Grunde ist die Platte ihr ganz eigenes organisch-synthetisches Zwitterwunderding.
Auf den ersten Hör wirkt vieles "kaputt", etwa gleich die Eröffnungsnummer und Vorab-Single 'Whispers In The Echo Chamber', eine Art Industrial Dubstep oder das schleichende 'Everything Turns Blue', das ebenso minimalistisch wie 'The Liminal' mit gedämpftem Klavier ins Langzeitgedächtnis blubbert - und dort bleiben die meisten Stücke tatsächlich, denn trotz der State-of-the-Art-Produktion (die Wirkung der Musik ergibt sich zu einem nicht geringen Teil aus gewieftem Sounddesign) sind das alles klassische Songs, die auf Gitarre gespielt am Lagerfeuer funktionieren würden.
Gleichwohl, das sachte 'Eyes Like Nightshade' zehrt im Besonderen von sich überlagernden Rhythmen, und das energetische 'House Of Self-Undoing' ist unbedingt auf seine elektronischen Elemente nebst hibbeligem Drumming angewiesen, genauso wie das durch Störgeräusche und Hallfahnen nahezu sinfonisch geratene 'Unseen World' oberflächlich betrachtet weit von zwanglosem Musizieren in einträchtiger Runde entfernt liegt. Dass Wolfe und ihr Kreativteam die traditionellen Liedermacher-Werte aber jederzeit hochhalten, erkennt man hier genauso wie im hauchzarten 'Tunnel Lights' oder während des unterschwellig säuselnden 'Salt'… Aller Anfang ist die Melodie, nicht wahr? Und diese macht in der Regel den Kern der Tracks aus.
Die sehnsüchtige Ballade 'Place in the Sun' und das textlich ungeheuer kräftigende 'Dusk' (sinngemäß: "Wir sind alle beschädigt, also lass es uns gemeinsam sein") schließen das Album auf einem zweifelsfrei hoffnungsvollen Oberton ab - Forderung "Erkenne dich selbst!" erfüllt.
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FAZIT: "She Reaches Out To She Reaches Out To She" ist das zunächst verstörende, dann betörende jüngste Puzzleteil im Gesamtkunstwerk Chelsea Wolfe, ein experimentelles, aber songorientiertes Album über Selbstbestimmtheit beziehungsweise -findung, Versöhnung mit dem inneren Kind und Offenheit für alles, womit einen das Leben konfrontiert. Realer und zeitgemäßer (zeitloser?) geht's also kaum, und wenn man ein aktuelles Beispiel dafür braucht, wie uns Musik zu besseren Menschen machen kann: hier ist es.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.02.2024
Chelsea Wolfe
Bryan Tulao, Chelsea Wolfe
Jess Gowrie, Ben Chisholm
Jess Gowrie, Ben Chisholm
Loma Vista / Universal
42:01
09.02.2024