Eine Warnung vorab: Der erste Kontakt mit "Audio Vertigo", dem neuen Album der Britrock-Sympathen ELBOW, kann ein kleiner Schock sein. Zumindest wenn man sich als Hörer und Fan so richtig eng mit dem Vorgängerwerk "Flying Dream 1" von 2021 eingerichtet hatte. Das war von einer gewissen Pandemie und ihren Beschränkungen geprägt, klang zurückhaltend, ätherisch, schwermütig, fast verzagt. Und wunderschön, denn statt der ELBOW-Säulenheiligen Peter Gabriel, Radiohead oder Porcupine Tree erinnerte diese Platte eher an die fabelhaften späten Talk Talk der "Spirit Of Eden"-Phase, an die schottischen Mega-Melancholiker The Blue Nile, an Artpop-Performer wie David Sylvian oder Jeff Buckley.
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Jetzt also eine erneute Kehrtwende, denn ELBOW machen wieder auf dicke Hose, liefern Musik für die Massen. Das klingt negativer, als es gemeint ist. Denn es gibt nur wenige Musiker, bei denen der Begriff "Stadionrock" weitestgehend ohne negativen Beigeschmack auskommt - weil diese Künstler auch in der ungemütlichsten Betonschüssel jedem einzelnen Zuhörer/Zuschauer das Gefühl geben, ganz speziell für diesen Zuhörer/Zuschauer zu spielen und zu singen. Bruce Springsteen ist so einer mit ganz besonderer Stadion-Magie. Und ELBOW aus der Nähe von Manchester sind es ebenfalls - sie füllen die Arenen zwar nur in Großbritannien, dort aber gehören sie zu den Größten ihrer Zunft und haben trotzdem nie die unsäglichen Coldplay-Banalitäten nötig gehabt.
"Audio Vertigo", das zehnte Studioalbum von ELBOW seit dem Debüt "Asleep In The Back" (2001), enthält im Gegensatz zum Vorgänger also wieder einige Perlen des Stadionrock. Spätestens mit "The Seldom Seen Kid" (2008) sowie den phänomenalen Singles "Ground For Divorce" und "One Day Like This" hatten Sänger Guy Garvey und seine vier Mitstreiter Hits, die sich in einem riesigen Kessel glücksseliger Fans wunderbar mitsingen ließen. Diese Popularität, die sicher auch etwas mit der persönlichen Glaub- und Liebenswürdigkeit der fünf Musiker zu tun hatte, kulminierte in Auftritten bei den Olympischen Spielen in London und einem Jubiläums-Feiertag der britischen Königin.
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Zu diesen bewährten Stadionhymnen dürften dank "Audio Vertigo" einige ähnlich wuchtige Crowdpleaser wie "Lovers' Leap" oder "Balu" hinzukommen - auch sie haben das Zeug zur Überwältigung mittels Gefühl und Groove. "Als wir in das Theater in Brighton kamen, wo wir 'Flying Dream 1' aufnahmen, hatten wir uns die längste Zeit in unserer Bandgeschichte nicht gesehen. Für die neue Platte hingegen sind wir in ein Wohnstudio in den Cotswolds gegangen, haben zusammen gegessen und getrunken, zusammen gespielt und viel gelacht", erinnert sich Guy Garvey (einer der freundlichsten Frontmänner im Pop-Business überhaupt) im Zoom-Interview. Alles auf Anfang, wie vor der Pandemie also: "Jetzt hieß es: Lasst uns etwas Schmutziges schreiben, lasst uns etwas Energiegeladenes machen, wir könnten unser Konzert-Set mit vier oder fünf (Songs) davon aufpeppen, ohne ELBOW-Puristen zu verärgern."
Wie oben angedeutet: Man muss sich an den neuen Sound (der freilich keine schnöde Wiederrholung alter Muster ist, dazu sind ELBOW viel zu neugierig) ein bisschen gewöhnen. Fast schon brachial knallen uns Guy Garvey (Vocals), Craig Potter (Keyboards), Mark Potter (Gitarre), Pete Turner (Bass) und Alex Reeves (Schlagzeug) ihre neue "Dreckigkeit" mit fetten Beats und Gitarrensoli um die Ohren. Auf den noch etwas spröden Opener "Things I've Been Telling Myself For Years" folgt mit "Lovers' Leap" zum Glück gleich ein Song für die ELBOW-Favoriten-Shortlist (inklusive Überraschungs-Break kurz vor Schluss). So lässig und relaxt klangen sie selten, und nicht nur hier zeigt sich die von Garvey zuletzt gern geäußerte Vorliebe für jazzigen, tanzbaren Afrobeat in der Praxis.
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Mit dem Studio-Schnipsel "(Where Is It?)" und Garveys "Cool, cool..."-Kommentaren beweisen ELBOW, dass sie wohl nie zu verkniffenen Studio-Perfektionisten werden. Später wiederholen sie den Live-im-Studio-Gag noch zweimal, wobei "Poker Face" mit 1:43 Minuten fast schon ein Song ist. "Wir haben schon immer sowas gemacht, wir hatten immer mal diese kleinen Studio-Schnappschüsse auf einem Album. Das hat mir gefallen – der Prozess als Teil der Kunstform. Ich liebe solche Sachen", sagt der Sänger und Hauptsongschreiber. Danach gehen die fünf Musiker (plus einige Studiogäste inklusive eigener Sprösslinge im Kinderchor) mit weiteren rhythmusorientierten Tracks ("Balu", "Very Heaven" und "Her To The Earth") in die Vollen. Hier lässt sich nachvollziehen, warum Garvey so gern den Fun-Faktor von "Audio Vertigo" betont: "Ich wollte mit diesem Release ein bisschen Spaß haben. Und ja, er macht musikalisch Spaß, wir hatten richtig Spaß dabei."
Der ELBOW-Frontmann - auch auf dieser Platte wieder mit einer brillanten Gesangsleistung, die sich immer mehr vom Vorbild Peter Gabriel emanzipiert - macht deutlich, dass die Band den viel zerbrechlicher klingenden Vorgänger "Flying Dream 1" trotz seiner vergleichsweise bescheidenen Albumcharts-Performance im UK (Platz 7) weiterhin schätzt: "Wir lieben diese Platte wirklich und sind immer noch stolz darauf. Die Texte waren sehr aus dem Leben gegriffen – Erinnerungen, Beobachtungen aus der Kindheit, die Kindheit meines Sohnes. Sehr, sehr viel Zeug aus dem Leben. Es war alles so durchdrungen von positiven und negativen Erinnerungen, wegen der Intensität dieser ganzen Situation." Aber nach der Pandemie sei es Zeit für eine optimistischere, körperbetontere Ausrichtung - auch wenn die ganz große melodische Raffinesse etwas seltener aufblitzt: "Ich will Musik hören, die mich aufmuntert."
"The Picture", "Knife Fight" und "Good Blood Mexiko City" treiben daher ebenfalls kraftvoll im Stadionrock-Modus voran, ehe ELBOW den wohl besten, ambitioniertesten Track ihres neuen Werks versöhnlich ans Ende gesetzt haben: "From The River" hat - obwohl keineswegs die berührende Farewell-Ballade, die sie auch drauf haben - eine so herrlich jazzige Sophisticated-Pop-Leichtigkeit, dass man durchaus an die 80er-Jahre-Legenden Prefab Sprout denken darf. Ein perfekter Abschluss eines nicht ganz perfekten (weil etwas unrunden) Albums.
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FAZIT: Die in Großbritannien superpopulären "Stadionrocker" ELBOW legen auf "Audio Vertigo" nach dem bezaubernden "Flying Dream 1" einen Kurswechsel hin, der zunächst gewöhnungsbedürftig sein kann. Aber sie wiederholen sich halt nie, bleiben experimentierfreudig und unberechenbar - keine geringe Leistung für eine so massentaugliche Artrock-Formation. Ein möglicher Ausblick: Die nächste ELBOW-Platte wird letztlich wohl wieder nicht "Flying Dream 2" heißen, um den hauchfeinen Faden von 2021 nochmal aufzunehmen, sondern sie könnte eher noch freier mit Grooves und Texturen umgehen. "Ich bin sehr gespannt, wohin das alles führen könnte", sagt Sänger Guy Garvey im Zoom-Interview. Kürzlich habe er „Cities“ von den Talking Heads (vom 1980er Album „Fear Of Music“) gehört - "es lief im Radio, und es hat meine Aufmerksamkeit sofort geweckt. Das könnte ein wirklich guter Aufhänger für die nächste Platte sein. Das nächste Album könnte, glaube ich, sogar noch ein bisschen frenetischer, noch ein bisschen cooler sein, noch mehr Spaß machen." Wir sind gespannt.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 22.03.2024
Pete Turner
Guy Garvey
Mark Potter
Craig Potter
Alex Reeves
Sarah Field, Victoria Rule (Trompete), Sarah Field (Saxophon), Carol Jarvis (Posaune), Ella Hohnen-Ford, Kianja Oakes, Eliza Oakes (Backing Vocals), Jack Heyworth, Elvin Reeves, Otto Simpson, Jack Stirling Garvey, Martha Turner, Ted Turner (Kinderchor)
Polydor/Universal
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22.03.2024