Den Vergleich mit ihrer isländischen Landsfrau Björk, möglicherweise sogar noch angereichert mit dem abgedroschenen Schubladen-Zusatz "Elfen-Pop", mag EMILIANA TORRINI nicht so. Zu Recht - nach 30 Jahren im Pop-Geschäft mit diversen Band- und Solo-Aktivitäten hat es sich diese 1977 in Reykjavik geborene Musikerin weißgott verdient, nicht nur als "sound-alike" eingeordnet zu werden. Auch ihr aktuelles Album - nicht wirklich ein Comeback, aber elf Jahre nach "Tookah" doch eine Art Neustart als Solokünstlerin - zeugt von großer Eigenständigkeit.
Und es hat eine so schöne Geschichte, dass die resultierenden Songs dahinter fast zu verschwinden drohen. "Miss Flower" ist eine Platte, für die TORRINI ihre Perspektive gewechselt hat beziehungsweise in eine andere Haut geschlüpft ist. Die neun Songs plus ein Instrumental sind Vertonungen von Briefen, die Geraldine Flower, die inzwischen gestorbene Mutter einer ihrer engsten Freundinnen, über mehrere Jahrzehnte heimlich gesammelt hatte. Ausgangspunkt war also eine Kiste mit Schwärmereien "von Männern aus der ganzen Welt, über Jahrzehnte geschrieben an eine Frau, deren Leben so spannend war wie auch geheimnisvoll", berichtet das deutsche TORRINI-Label Grönland Records.
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Und die Sängerin erzählt: "Wir haben angefangen, einige dieser Briefe, meist, aber nicht nur, von Männern zu lesen. Sie waren ziemlich besessen von ihr, total verknallt." Früher habe sie meist Lieder aus ihrer sehr persönlichen Sicht verfasst - und "dabei ging es dann doch oft um mich selbst", räumt die 47-jährige TORRINI in einem anderen Interview zu "Miss Flower" ein. Nun hingegen "die Geschichte anderer zu erzählen - wie wir es jetzt getan haben - ist wundervoll, einfach weil ich selbst so sehr daran interessiert war. Ich kenne meine eigene Geschichte ja nun wirklich zur Genüge, und die finde ich nicht besonders interessant."
Soviel zur Inspiration für die Lyrics, die manchmal ernst oder melancholisch, oft aber auch humorvoll und bisweilen sogar ganz schön sexy daherkommen. "When we make love..." heißt es beispielsweise mantra-artrig zu sphärischem Keyboard-Geplucker in "Love Poem" (einem Song, mit dem EMILIANA TORRINI rein stimmlich dem ungeliebten Björk-Vergleich freiliich kaum entkommen dürfte). Die Basis war ein Gedicht von Geraldine Flower an ihren Langzeitgeliebten. "Ich suchte verzweifelt nach ihren eigenen Worten für die Platte, da wir nur Briefe an sie, aber nicht von ihr zur Verfügung hatten. Als ihre Tochter Zoe schließlich das Gedicht fand, fühlte sich das wie ein Wunder an, und wir konnten das Album zu Ende bringen."
Auch der Titelsong ist "very sensual and rather obsessive", wie TORRINI sagt: "I want to taste you//Taste your lips, feel your hair/I want to breathe you/Taste your hips, taste your skin/I want to own you/Taste your mouth, taste your fingers/I want to love you/Taste your breath, taste your sweat/Let me adore you" - noch Fragen, worum es hier geht? "Ich kann jetzt sehr gut verstehen, warum sie neun Heiratsanträge erhielt und trotzdem wie ein Schmetterling war und nie heiratete", sagt EMILIANA TORRINI. Geraldine Flower sei sehr unabhängig gewesen, "sie lebte ihr Leben ohne Kompromiss und voller Abenteuerlust".
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Die überwiegend elektronisch angelegte Musik zu den teils expliziten Lyrics bleibt insgesamt reduziert, so dass man sich gut auf die gesprochenen/gesungenen Worte konzentrieren kann. Da die enge Freundin Zoe Flower (auf dem Cover-Foto gegenüber von TORRINI an einem Tisch sitzend) mit deren langjährigem Keyboarder und Songwriting-Partner Simon Byrt verheiratet ist, gestalteten sich die Personalsuche und die Zusammenarbeit für das neue Album unkompliziert. Dennoch gingen schließlich rund zwei Jahre ins Land, bis die Platte fertig war.
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Gut, dass es nun soweit ist. EMILIANA TORRINI, die vor 15 Jahren mit dem Album "Me And Armini" und der Nummer-eins-Single "Jungle Drum" auf dem Weg zum Mainstream-Starruhm war, dann aber doch in eine andere Richtung abbog (beispielsweise mit dem belgischen Chamber-Pop-Ensemble The Colorist Orchestra), erweist sich erneut als eine der interessantesten europäischen Singer-Songwriterinnen. Und "Miss Flower" ist eine hörenswerte Electro-, Trip-Hop- und Artpop-Platte, mit der die Isländerin einer faszinierenden Frau ein Denkmal setzt.
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FAZIT: Als Solokünstlerin hatte sich EMILIANA TORRINI - wohl auch aus Gründen der Familiengründung und Mutterschaft - eine mehrjährige Pause gegönnt, nach ihrem Album "Tookah" (2013) kamen lediglich zwei (allerdings durchaus gelungene) Kollabo-Werke mit The Colorist Orchestra zustande. Jetzt kehrt die 47-Jährige als gereifte Singer-Songwriterin zurück - vielleicht nicht triumphal, aber doch mit einem sehr lohnenden Album. Auf "Miss Flower" erzählt TORRINI anhand von realen Liebesbriefen die Geschichte einer Frau, für die Selbstermächtigung und Freiheitsdrang schon vor Jahrzehnten selbstverständlich waren. Gelungenes Experiment einer sympathischen Künstlerin.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.06.2024
Simon Byrt
Emiliana Torrini, Mara Carlyle, Harold Prieto
Simon Byrt, Ian Kellett
Simon Byrt
Liam Hutton, Helgi Svavar Helgason, Emiliana Torrini
Simon Byrt (Violine)
Grönland Records/Rough Trade
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21.06.2024