<b>„Dieses Album ist für jeden, der sich wie ein Außenseiter fühlt. Andersartigkeit wird definiert als das Sein oder das Gefühl, sich in Aussehen oder Charakter von dem zu unterscheiden, was vertraut, erwartet oder allgemein akzeptiert ist. Ironischerweise ist dieses Gefühl der Andersartigkeit eines, das wir alle teilen und erleben, wenn wir auf unseren eigenen Planeten kreisen.“</b> (FERRIS & SYLVESTER)
Wie wunderschön es klingen kann, wenn sich der männliche Blues-Rock und der weibliche Folk miteinander vereinen – so gesehen ehelichen – und dabei im doppelten Sinne ein klangvolles Kind herauskommt, dann heißt es FERRIS & SYLVESTER. Manchmal ist es eben Schicksal, wenn sich zwei finden und lieben lernen, von denen der Eine Bluesrocker und die Andere Folk-Musikerin ist, um die kluge Entscheidung zu treffen, privat wie musikalisch den Pfad der Ehe einzuschlagen und nach einem hoch gelobten LP-Debüt („Superhuman“) nun ein weiteres Sound-Baby der gleichen Güteklasse mit „Otherness“ folgen zu lassen.
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Und wenn wir gerade bei 'Babys' sind. Wer sich genauer mit der Gestaltung der Doppel-LP und den beiden bedruckten LP-Innenhüllen samt aller Texte befasst, entdeckt darauf auch eine außer- wie ungewöhnliche Widmung, welche sich das 'Ascension Saint Thomas Hospital Midtown in Nashville' direkt in seinen Eingangsbereich hängen sollte: „Den Schwestern und Ärzten des Krankenhauses gewidmet, die unseren Sohn sicher zur Welt brachten – viel früher als geplant. Ihr schenktet uns in den Wochen darauf die Sicherheit und Freundlichkeit und ihr beschütztet uns. Unsere Dankbarkeit an euch wird ewig bleiben. Euch widmen wir unser Album.“
Ideenreich legen die Beiden zugleich ihre Doppel-LP mit vier unterschiedlich gestimmten Seiten an (die vielleicht in dieser Folge sogar etwas mit der Geburt zu tun haben), von der sie den ersten drei einen Namen und der letzten ein kunstvolles Bild verleihen – und dabei dem jeweiligen Namen in Musik und Text alle Ehre machen, als da wären:
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*Seite A: „Storm“; kraftvoll rockend, bluesend und 'stürmisch' sowie deutlich an ein anderes Paar – allerdings Geschwisterpaar – erinnernd: THE WHITE STRIPES. Verzerrter Gesang trifft auf verzerrte Gitarren und druckvolle Rhythmen, die sich aber auch, wie bei „Mother“, in ruhigeren und traurigeren, ja, gar erschütternden Gefilden breitmachen und sofort Erinnerungen an die großartige TORI AMOS wachrufen, wenn eine Tochter ihre Mutter anfleht, den Vater zu verlassen, um ihre Kinder zu schützen: „Mother, leave my father / And get me out of this hell /.../ Do it for the children“.
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Noch melodramatischer wird es im letzten A-Seiten-Weltuntergangssong „End Of The World“: „Now it's the end of the world / It was nice to know you“. Schlimmere Steigerung unmöglich – musikalisch aber herrlich wie ein Wolf im Schafspelz, der sich sanft tänzelnd und mit zartem Wohlklang der Schafherde nähert, während er schon mit den Zähnen fletschend an seine reichhaltige Mahlzeit denkt. Ganz ähnlich ließen schon PINK FLOYD in „Sheep“ die Herde vor ihren Messias treten, der sich dann nur als unerbittlich mordlustiger Fleischer erwies, währenddessen einem beim genauen Hören von FERRIS & SYLVESTER bewusst wird, dass die Sängerin, die nicht nur die vokalen Anteile der Songs dominiert, sondern diesen auch immer wieder sehr unterschiedliche Klangfarben verpasst, gerade bei den von akustischer Gitarre bestimmten Stücken, einer KATIE MELUA genauso wie einer JULIA STONE sehr, sehr nahe ist.
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**Seite B: „Flood“; Die 'Flut'-Seite bricht mit „Out Of It“ los, die Erinnerung an einen alten, ehemaligen Freund, der seinen Gegenüber wohl oft erniedrigte, den man aber trotzdem nicht aus seinen Gedanken und Gefühlen streichen kann: „But there's still something in you / That burns in me / And I can't get out of it / Out from under your feet /No I can't get free“. Ein dunkler Song, mit dem Hang zu psychedelischen Sixties-Retro-Sounds und gleichermaßen E-Gitarrenausbrüchen wie Folk-Schwelgereien plus ein paar Americana-Anleihen, bei denen WILCO grüßen lassen.
Überhaupt wird die „Flood“-Seite vordergründig zur Folk- und Sixties-Seite mit Parallelen zum LP-Cover-Motiv, das uns weit in die Vergangenheit entführt und die Aura eines Hitchcock-Films versprüht, die oberflächlich betrachtet Natürlichkeit und Schönheit verbreitet, während hinter der Fassade bereits die schrecklichsten Kreaturen auf ihren Auftritt warten. Hier schweben und flirren die Sounds oft durch den Raum, während am Horizont die Sonne hinter einem Bergmassiv untergeht.
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***Seite C: „Hope“; Die letzte 'Musik'-Seite setzt an Melodramatik und weltuntergänglichen Texten sogar gleich mit „Muzzle“ noch einen drauf – so düster gesungen und minimalistisch instrumentalisiert, dass einem schon beim Hören angst und bange wird, wenn der Song mit „Play dead when the ships come in...“ endet und danach ein verzerrtes E-Gitarren-Gewitter explodiert.
Ein Ausreißer auf dem Doppel-Album ist „The Performer“, der durch einen herrlich jazzigen Mittelteil besticht, bis sich in bester ANGUS & JULIA STONE-Manier das Ehepaar FERRIS & SYLVESTER nach „Headache“ mit „Love Is Real“ (Am Ende also doch noch ein Lichtblick, der dem „Hope“-Titel dieser LP-Seite entspricht, selbst wenn der wiederum vom Gesang und der Stimmung her sehr ruhig und traurig klingt!) aus ihrem schwer beeindruckendem Album verabschieden.
****Seite D: „Laser-Art“; Kunstoll und ohne Musik wartet die letzte Seite des Doppel-Albums mit einem auf das schwarze Vinyl gelaserten, wie von Hand geschrieben wirkenden Text auf, der mit den Zeilen und zugleich der gesamten Botschaft hinter dieser Doppel-LP endet: „Don't forget our otherness“!
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FAZIT: Lasst uns niemals unser Anderssein vergessen und infolgedessen zu Herdenvieh werden, das genüsslich Andere zur Schlachtbank führen. Eine Botschaft, die dem gesamten Album, das sich durch abwechslungsreichen Folk, Blues-Rock, und Sixties/Seventies-Psyche auszeichnet, innewohnt und zugleich mit (oft bedrückenden) Texten allererster Singer/Songwriter-Güte, gesungen mit zwei wundervollen Stimmen, aufwartet. FERRIS & SYLVESTER – oder genauer Issy Ferris und Archie Sylvester – sind als musikalisches Ehepaar der totale Glücksgriff, ähnlich wie es die Geschwisterpaare ANGUS & JULIA STONE oder die WHITE STRIPES mit Jack und Meg White sind. Und dass ihr „Otherness“-Album vier unterschiedliche Musik-Seiten („Storm“ / „Flood“ / „Hope“) und am Ende eine Kunstseite mit aufgedrucktem Text aufweist, spricht zugleich für den hohen Anspruch und die Ideenvielfalt auf „Otherness“, das noch dazu auf alten Tonbändern und einer Bandmaschine aufgezeichnet wurde (in bester Tonqualität natürlich) und dem gesamten Album damit eine ganz ähnliche Aura wie das auf den ersten Blick schöne in der Vergangenheit schwelgende und den zweiten dann doch bedrohliche LP-Cover verleiht. Und darum gibt’s für Vinyl noch einen Punkt mehr als zu der bereits ebenso begeisterten Kritik meines Kollegen Ullrich.
<b>PS:</b> Momentan haben wir in Deutschland das große Glück, FERRIS & SYLVESTER bei drei Konzerten begrüßen zu können. Sollte man sich nicht entgehen lassen:
18. 3. Köln, Blue Shell
19. 3. Hamburg, Nochtwache
21. 3. Berlin, Prachtwerk
Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.03.2024
Archie Sylvester
Issy Ferris, Archie Sylvester
Archie Sylvester
Michael Rendall, Issy Ferris, Archie Sylvester
Ross Gordon, Alex Wadstein, Archie Sylvester
Michael Rendall, Lady Nade, Jack Francis (Harmoniegesang), Lydia Alonso, Halo Strings (Streicher), Issy Ferris, Archie Sylvester (Percussion)
Archtop Records
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01.03.2024