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Reviews

Ferris & Sylvester: Otherness

Stil: Singer/Songwriter, Indie, Art Pop, Folk

Cover: Ferris & Sylvester: Otherness

ISSY FERRIS und ARCHIE SYLVESTER sind irgendwie anders. Das legt jedenfalls der Titel ihres zweiten Albums „Otherness“ nahe. Denn „Otherness“ bedeutet 'sich in Aussehen oder Charakter von dem zu unterscheiden, was vertraut, respektiert oder allgemein akzeptiert ist oder sich anders anzufühlen'. Allerdings ist die Sache nicht so ganz einfach, denn als gewieftes Songwriter-Ehepaar haben FERRIS & SYLVESTER es natürlich drauf, ihre Songs – sowohl musikalisch wie auch inhaltlich - auf betont vielschichtige Weise anzulegen und dabei keinesfalls alleine auf autobiographische Elemente zu setzen. Es steckt also hinter diesem Titel weit mehr als etwa eine weitere Hommage an das Außenseitertum.

Das im März 2022 erschienene Debüt-Album „Superhuman“ des Duos aus London wanderte weiland in die britischen Blues-Charts - was vielleicht damit zu erklären ist, dass ARCHIE SYLVESTER bereits erfolgreich mit seinem Blues-Rock-Trio unterwegs gewesen war, bevor er 2016 in London auf die junge Songwriterin ISSY FERRIS traf und beide beschlossen, fürderhin gemeinsam Songs zu schreiben. Den Blues als alleinige Basis für ihr Tun hatten FERRIS & SYLVESTER aber bereits mit dem ersten Album hinter sich gelassen und sich einen eigenen facettenreichen Stil erarbeitet, in dem von vorneherein auch Platz für Rock-Elemente, Folk, Soul und klassischem Gitarrenpop war.

Dieses Prinzip wird auf dem nun vorliegenden Album „Otherness“ nicht nur fortgeführt, sondern ergänzt um zusätzliche Elemente wie Psychedelia, Prog-Strukturen, R'n'B oder Funk. Dass es sich dabei vor allen Dingen um amerikanische Musik-Genres handelt, kommt nicht von ungefähr, denn FERRIS & SYLVESTER waren auf einer großen US-Tour, als sie sich darauf vorbereiteten, die neue LP anzugehen und ließen sich dabei auch von Acts wie GLEN CAMPBELL oder den ALABAMA SHAKES inspirieren. (Noch eine Randnotiz: Auf dieser Tour kam der Sohn von FERRIS & SYLVESTER unerwartet als Frühgeburt zur Welt, so dass das englische Paar nun einen amerikanischen Sohn hat.)

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Es lag aber gar nicht in der Absicht des Paares, sich musikalisch von der Musik der USA prägen zu lassen, sondern vielmehr von einer bestimmten Epoche. ARCHIE SYLVESTER studierte nämlich die Zeit der späten 60'er und frühen 70'er, in der seine persönlichen Lieblingsacts ihre Hochzeit hatten und legte Wert darauf, die damals üblichen Prinzipen in Sachen Produktion und Songwriting auch auf die neuen, eigenen Songs anzuwenden. Und so kommt es dann, dass es neben amerikanischen Stilelementen eben auch britische Vibes wie z.B. den Blues-Rock von „Dark Times“, Prog-Weirdness in dem Song „Headache“ oder, wie Sylvester selbst sagt, den „LED-ZEPPELIN-Folk“ des Titeltracks gibt.

Dabei werden die verschiedenen musikalischen Elemente nicht in einzelnen Songs abgehandelt, sondern in einem großen Pastiche zu einer vielschichtigen Hommage an die große Zeit der organischen Pop-Produktionen im Prä-Digitalen Zeitalter verwoben. Das hat mehrere Gründe: So treffen FERRIS & SYLVESTER beim Schreiben der Songs des öfteren aus verschiedenen Richtungen aufeinander und müssen dann erst einmal zueinander finden – was manchmal zu Songs wie „What's It Gonna Take“,“Out Of It“ oder besonders „Mother“ führt, die aus so vielen verschiedenen Fragmenten zusammengesetzt sind, dass am Ende sowieso eine ganz eigene stilistische Gemengelage dabei herauskommt.

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Ein anderer Grund dafür, dass auf diesem Album so viele verschiedene Elemente ineinandergreifen – und warum das Material unbedingt analog eingespielt werden musste – ist das Artwork. FERRIS & SYLVESTER schickten der Künstlerin Karen Lynch die Demos und die Songtitel des Albums und baten diese, eine Collage zu erschaffen, die die verschiedenen Aspekte des Materials visualisieren sollte. Dann nutzten sie diese Collage (die nun auch das Cover ziert) ihrerseits als Inspiration im Studio, um sich atmosphärisch befruchten zu lassen und alle Details der Collage wiederum in ihre Musik zu überführen. Und da die Collage aus analogen Fotos der 60er-Jahre bestand, entschieden sich FERRIS & SYLVESTER dazu, die Songs dann eben auch analog aufzunehmen.

Zum Schlüsselstück des Albums wurde dabei der mit dem Co-Produzenten Michael Randall geschriebene Track „Mother“ - einfach weil dieser Song das Patchwork-Prinzip des ganzen Albums sowohl musikalisch wie auch inhaltlich perfekt zusammenfasst. „Mother“ erzählt aus der Sicht eines Kindes, das seine Mutter bittet, ihren Mann zu verlassen um gemeinsam ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Der Song beginnt als entspannt groovende, aber düstere psychedelische Ballade, die sich langsam zu orchestraler Dramatik steigert und im Refrain dann stimmungsmäßig in eine Traumwelt wechselt, die in der Bridge des Songs dann auch entsprechend produktionstechnisch hymnisch aufgebohrt und mit einem psychedelischen Gitarrensolo gekrönt wird. Letztlich zeigt dieser Track am eindringlichsten, wofür FERRIS & SYLVESTER heute stehen, und wozu sie letztlich als Musiker und Songwriter fähig sind.

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Andere Tracks, wie die Blues-lastigen Opener „Dark Side“ und „Imposter“, sind etwas geradliniger angelegt, überraschen aber dennoch immer wieder mit unerwarteten Breaks, Soli, Stilwechseln oder Zwischenspielen. Das Epos „Rain“ ist hingegen so komplex, dass es
in zwei Teile zerlegt werden musste, während der rätselhafte Track „Muzzle“ in eine Art psychedelisches Retro-Hörspiel ausartet. Nur selten gibt es Songs wie die Folkpop-Nummer „Paper Plane“ oder der folkige Titeltrack, die konsequent in einem Flow durchgezogen werden. Gerade das aber zeichnet das Album „Otherness“ aus, welches sich als ein zeitloses Werk entpuppt, das mit jedem Hören immer wieder neu entdeckt werden kann.

FAZIT: Während sich FERRIS & SYLVESTER auf der Bühne an Gitarre und Bass ständig abwechseln, konzentriert sich ISSY FERRIS bei dieser Produktion weitestgehend auf den Lead-Gesang, während ARCHIE SYLVESTER sich um die instrumentale Ausgestaltung und die Produktion des Albums kümmert. Diese Aufgabenteilung führt zu einer Klarheit und emotionalen Geradlinigkeit, die bei einem dermaßen ambitionierten Projekt überrascht. Die Vielschichtigkeit der musikalischen Elemente hingegen trägt zu einem unterhaltsamen und kurzweiligen Hörvergnügen bei, sodass Inhalt, Format und Klang letztlich zu einem schlüssigen Ganzen zusammenfinden.

<b>PS:</b> FERRIS & SYLVESTER sind für drei Konzerte in Deutschland unterwegs. Diese Chance sollte man sich nicht entgehen lassen:
*18. März in Köln im 'Blue Shell';
**19. März in Hamburg in der 'Nochtwache';
***21. März in Berlin im 'Prachtwerk'.

Punkte: 13/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.03.2024

Tracklist

  1. Dark Side
  2. Imposter
  3. Don't Fall In Love With Me
  4. Mother
  5. End Of The World
  6. Out Of It
  7. Rain (Intro)
  8. Rain
  9. Paper Plane
  10. What's It Gonna Take
  11. Muzzle
  12. Headache
  13. The Performer
  14. Love Is Real
  15. Otherness

Besetzung

  • Bass

    Archie Sylvester

  • Gesang

    Issy Ferris, Archie Sylvester

  • Gitarre

    Archie Sylvester

  • Keys

    Michael Rendall, Issy Ferris, Archie Sylvester

  • Schlagzeug

    Ross Gordon, Alex Wadstein, Archie Sylvester

  • Sonstiges

    Michael Rendall, Lady Nade, Jack Francis (Harmoniegesang), Lydia Alonso, Halo Strings (Streicher), Issy Ferris, Archie Sylvester (Percussion)

Sonstiges

  • Label

    Archtop Records

  • Spieldauer

    54:48

  • Erscheinungsdatum

    01.03.2024

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