Ohne Konzept geht es für die kanadische Songwriterin JENNIFER CASTLE auch auf dem siebten Longplayer „Camelot“ nicht. Ihr 2018er-Album „Angels Of Death“ etwa bezeichnete sie aufgrund ihrer Beschäftigung mit dem Thema der Vergänglichkeit als ihre „Todes-Scheibe“, während das 2020er-Werk „Monarch Season“ sich auf esoterische und allegorische Weise mit dem Streben der Monarchfalter-Schmetterlinge zum Licht bzw. Mond beschäftigte. Dieses Mal ist das mythologische „Camelot“ der Sammelbegriff, unter dem JENNIFER CASTLE ihre Betrachtungen einer Frau mittleren Alters – bzw. einer Frau aus dem Mittelalter – zusammenfasst, denn eines ist klar: Eindeutig ist nichts in der Welt der JENNIFER CASTLE.
In der realen Welt wie auch der Welt der Geschichte und der Geschichten ist „Camelot“ aus der Arthur-Legende kein klar definierter Ort, sondern mehr ein mystischer Sammelbegriff und Seinszustand. Will meinen: Wie in der Erzählung von der Suche nach dem Heiligen Gral vermengen sich in JENNIFER CASTLEs neuester Songsammlung Phantasie, Spiritualität, Fiktion, Mythologie, Erinnerungen, Fakten und Interpretationen in einem wortreichen Erzählstrang, der von Außenstehenden nur schwer (oder ohne Zusatzinformationen gar nicht) decodiert werden kann. Die Videos, deren Bildwelten kaum etwas mit den Songs zu tun haben scheinen, helfen ebenfalls nicht weiter. Eine eigene Deutung des Gehörten ist somit also unabdingbar.
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Eine klassische Geschichtenerzählerin ist JENNIFER CASTLE sowieso nicht. Was sie jedoch an erzählerischer Stringenz vermissen lässt, macht sie durch Poesie, blumige Metaphern, Allegorien und auch klar umrissene Bilder wieder wett. Und wer sich die Mühe macht, dieses Geflecht zu durchforsten, der wird vielleicht zu dem Schluss kommen, dass es sich bei diesem Album um JENNIFER CASTLES Empowerment-Manifest handeln könnte. Denn es geht der Protagonistin darum, ihrem Zweifel an so unterschiedlichen Dingen wie der institutionalisierten Religion („Trust“), falschen Freunden („Some Friend“) oder der Technokratie („Fractal Canyon“) muntere Songs wie „Full Moon In Leo“, „Lucky #8“, „Miracle“ und natürlich den „Earthsong“ mit lebensbejahenden Bildern aus der paganistischen Naturkunde und Mythologie als Alternative entgegenzustellen, um auf diese Weise eine gewisse Selbstbestätigung und Lebensfreude zum Ausdruck zu bringen. JENNIFER CASTLES „Camelot“ kann zugleich Vision, Zufluchtsort wie auch ein Platz für Utopien sein. Man muss sich nur entscheiden, an was man glauben möchte.
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Wem das alles zu verschwurbelt erscheint, dem hilft vielleicht die musikalische Umsetzung weiter, denn diese ist recht konkret angelegt. Hier gibt es insgesamt zwei Zielrichtungen zu beobachten: Songs wie „Some Friends“ oder „Earthsong“ - in denen JENNIFER CASTLE über intime Beobachtungen reflektiert und ihre Zweifel (auch an sich selbst) zum Ausdruck bringt - kommen in Form von auf das absolut Notwendige reduzierte, aber perfekt komponierte und inszenierte Folk-Songs daher, während sich besonders die lebensbejahenden Empowerment-Statements „Lucky #8“, „Full Moon In Leo“ oder „Mary Miracle“ als lebendige Up-Tempo-Nummern mit psychedelischem Flair und Jam-Passagen präsentieren. Dazwischen gibt es als Bindeglied Songs wie den Titeltrack, „Trust“, „Louis“ oder „Blowing Kisses“ (ein Song, der über die Platzierung in der Fernsehserie „Bear“ einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte), die sich dann in einem balladesken Bereich bewegen, in welchem OWEN PALLETTS opulent ausgeführte Streicher-Arrangements besonders effektiv zur Geltung kommen.
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Nun ist es fast unmöglich, bei einer Künstlerin, die über eine so reichhaltige Sprache auch musikalischer Natur verfügt, nach Vergleichen zu suchen. Stimmungsmäßig und insbesondere aufgrund des Timbres und der verwendeten klassischen Cosmic-American-Music-Zutaten ist es gar nicht so abwegig, Ähnlichkeiten zum Tun einer jungen EMMYLOU HARRIS (oder aus der neueren Zeit COURTNEY MARIE ANDREWS) auszumachen. Während das lebhafte Zusammenspiel der Musiker eher an die kollaborativen Arbeiten von THE BAND erinnert. Das aber nur als Orientierungshilfe. Denn als Künstlerin mit einer so eigenständigen Vision ist JENNIFER CASTLE über jeden Zweifel an der eigenen, künstlerischen Identität erhaben.
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FAZIT: Ihr letztes Album „Monarch Season“ hatte JENNIFER CASTLE vermutlich pandemiebedingt noch allein mit ihrem musikalischen Partner JEFF MCMURRICH eingespielt und dabei aufgrund der technischen Unzulänglichkeiten keine besonders gute Figur hinterlassen. Für das neue Album „Camelot“ tat sie sich wieder mit ihrer Band zusammen (zu der natürlich auch MCMURRICH gehört), produzierte in einem richtigen Studio, bat den alten Vertrauten OWEN PALLETT, schwelgerische Streicher- und Bläser-Arrangements zu schreiben, und lud sich Gäste wie CASS MCCOMBS als Gitarrist oder die Harmonie-Sängerinnen VICTORIA CHEONG und ISLA GRAIG ein, die Gesangsarrangements auszuarbeiten. Das Ergebnis ist eine zwischen den Extremen effektiver Folksongs und hymnischer Epen pendelnde, sehr facettenreiche und poetische – und vor allen Dingen brillant klingende – Singer/Songwriter-Scheibe in einem nicht allzu formal ausgerichteten Americana-Setting. Viel auszusetzen gibt es da nicht, denn Freunde dieser Art von Musik werden ein Ambiente vorfinden, dass zugleich vertraut wie inspirierend wirkt.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.11.2024
Mike Smith
Jennifer Castle
Jennifer Castle, Jeff McMurrich, Paul Mortimer, Cass McCombs
Carl Didur
Evan Cartwright
Owen Pallett (String-Arrangements)
Paradise Of Bachelors
42:15
01.11.2024