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Jesper Lindell: Before The Sun

Stil: Folkrock, Americana, Southern Soul, Singer-Songwriter, Country-Rock, Westcoast-Pop, Blues

Cover: Jesper Lindell: Before The Sun

Sagen wir es, wie's ist: "Before The Sun", der Titelsong des dritten Albums von JESPER LINDELL, ist mehr als nur eine in Töne gegossene Erinnerung an "The Weight", also an das ikonische Stück vom ebenso ikonischen The-Band-Debüt "Music From Big Pink" (1968). Es ist eine tiefe Verbeugung vor dem legendären, im vorigen August mit 80 Jahren gestorbenen Folkrock-Songwriter Robbie Robertson und seinen Band-Kollegen Levon Helm, Richard Manuel, Rick Danko und Garth Hudson - haarscharf am Plagiat vorbei. "Wenn ein Song auf dieser Platte von The Band inspiriert wurde, dann dieser", räumt LINDELL im Musikreviews-Interview ohne Zögern ein. Für ihn sei "ihre Musik eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Und ich werde nie müde, sie zu hören."

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Weil der "The Weight"-Nachbau aber so schön ist und die anderen Lieder des Albums ähnlich perfekt geformt unter der großen Americana-Flagge segeln, gibt's daran auch nichts zu beanstanden. Im Gegenteil: "Before The Sun" ist möglicherweise das beste Americana-Album dieses Jahres, das nicht aus Amerika stammt. Denn JESPER LINDELL, ein 30-jähriger Sänger und Gitarrist, ist Schwede. Und doch hat er - wie auch andere Americana-nahe Songwriter seines Heimatlandes, etwa Christian Kjellvander, Kristian Matsson (The Tallest Man On Earth) oder Kristofer Aström - den Country-Folk, den Südstaaten-Soul und den Blues für seine Aufnahmen so verinnerlicht, dass am Ende ein formidables, letztlich auch eigenständiges Werk herausgekommen ist.

Stört es ihn nicht trotzdem ein bisschen, wenn der deutsche "Rolling Stone" (März-Ausgabe) ihn als "Retro-Soul-Enthusiast“ bezeichnet? Denn "retro"“, das wird ja bisweilen als Synonym für "altmodisch" oder "fade nostalgisch" gelesen. "Ach nein, das stört mich überhaupt nicht", sagt JESPER LINDELL, um dann doch einzuschränken: "Aber ich fühle mich dadurch auch nicht geschmeichelt, denke ich. Ich versuche jedenfalls nicht, das Rad neu zu erfinden mit der Musik, die ich schreibe. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass die Leute denken könnten, es sei altmodisch oder nur ein Abklatsch von etwas, das in den 60ern oder 70ern gemacht wurde. Aber das ist mir eigentlich egal, denn ich mache nur die Musik, die ich liebe, mit Leuten, die ich mag, und das ist für mich das Einzige, was wirklich zählt."

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Die Liebe zur nordamerikanischen Roots-Musik entdeckte der als Bassist in einer Heavy-Band gestartete Musiker, als er zum ersten Mal den Film "The Last Waltz" (das 1978 veröffentlichte Kino-Doku-Meisterwerk von Martin Scorsese über das große Abschiedskonzert von - na klar, The Band) gesehen hatte. "Da hat es in mir Klick gemacht, würde ich sagen", schwärmt LINDELL. "All diese großartigen Musiker, die diese Songs spielten, waren wie Magie für mich." Dass bei dem Farewell-Gig in San Francisco am 25. November 1976 auch Koryphäen wie Neil Young, Van Morrison, Bob Dylan, Muddy Waters oder Stephen Stills auftraten, wird den prägenden Eindruck für den jungen Burschen aus der schwedischen Provinz noch verstärkt haben. Denn alle dürften bis heute zu seinen Vorbildern zählen - ihr Sound hat Tausende Singer-Songwriter beeinflusst, und definitiv auch JESPER LINDELL.

Als Sänger hat der - wie so viele Skandinavier - perfektes Englisch beherrschende Musiker mit Album Nummer drei eine erstaunliche Reife und Tiefe erreicht, seine angerauten Vocals glühen nur so vor inbrünstiger Wärme. "Ich war nicht immer da, wo ich heute stimmlich bin", sagt LINDELL. "Ich habe viel geübt und bin einfach erwachsen geworden, um hierher zu gelangen." Zu seinen Lieblingssängern zählt er neben den gut herauszuhörenden Großmeistern Van Morrison und Ray Charles auch Elvis Presley, Etta James, Karen Dalton und Jeff Buckley. A man of good taste.

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„Before The Sun“ ist ein großformatiges Werk, mit teils üppigen Arrangements, fetten Bläsern, behaglichen Vintage-Keyboards und jeder Menge Gitarren. Kaum zu glauben, dass dieses Album nicht in den USA entstanden ist, sondern auf dem Lande in Schweden. "Wir haben es fast zeitgleich mit dem Vorgänger "Twilights" in meinem Studio in Brunnsvik, gleich außerhalb meiner Heimatstadt Ludvika, aufgenommen", erzählt JESPER LINDELL. Mit dem Opener "One Of These Rainy Days" finden der Sänger und seine Band sogleich den Mittelweg zwischen Countryrock und Southern Soul - "Van the Man" lässt schön grüßen. "Ein (musikalisch) erbaulicher Song über ein textlich nicht so erbauliches Thema", erläutert LINDELL. Die Lyrics seien "inspiriert von einem schwedischen Lied namens „Hopplös Blues“, oder „Hopeless Blues“ auf Englisch".

Ein Track-by-track-Check des Albums im Interview ergibt, dass mehrere Lieder von schweren Themen durchzogen sind. Beispielsweise "Never Gonna Last“: "Ich habe diesen Song auf dem Höhepunkt der Pandemie geschrieben, als alles so hoffnungslos erschien und die Rückkehr zu etwas Normalem so weit entfernt schien. Also schrieb ich ihn, um mir zu sagen, dass ich positiv bleiben und das Beste aus der Situation machen sollte." Oder die Ray-Charles-Hommage "A Little Light In The Dark“: "Während der Pandemie hatte ich eine Nierentransplantation, und ich fühlte mich 200 Jahre alt, weil ich davor sieben Monate lang an der Dialyse war. Also wollte ich einen Song schreiben, der aus der Perspektive eines alten Mannes zu sein scheint." Und „A Strange Goodbye“ entstand für die an Alzheimer erkrankte Großmutter von JESPER LINDELL - "nicht unbedingt über ihr Leben direkt, aber sie kommt in dem Lied sicher vor. Daher ist dies wahrscheinlich das Lied, das mir am meisten bedeutet."

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Es gibt aber auch "Gute-Laune-Lieder" auf "Before The Sun", wie der Singer-Songwriter sagt. So sei "Good Evening“ inspiriert von Louis Prima, "weil es mich immer glücklich macht, wenn ich seine Musik höre". Und "Howlin“ beziehe sich auf den Elvis der 70er. "Das ist vielleicht der albernste Text auf der Platte, aber ich mag ab und zu alberne Texte." Mit "Brunnsvik“ setzt JESPER LINDELL dem Ort ein Denkmal, "an dem ich aufgewachsen bin, und ich wollte einen Song schreiben, der einfach das Gefühl dieses Ortes einfängt". "Honesty Is No Excuse“ ist das einzige nicht von LINDELL zumindest mitgeschriebene Stück, sondern "einer meiner absoluten Lieblingssongs von Thin Lizzy". 

Mit der Ballade "Do Me In", wo LINDELL erstmals im Falsett singt, endet das Album angemessen würdevoll, fast hymnisch. Jetzt will der Sänger diese starke Songsammlung im Herbst auch in Deutschland einem wachsenden Publikum präsentieren: "Ich liebe es zu touren, auch wenn es manchmal harte Arbeit ist", sagt JESPER LINDELL. Wir freuen uns darauf.

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FAZIT: Dass aus Schweden herausragende Americana-Musiker kommen, ist ja nichts Neues. Aber wie virtuos der hierzulande bisher fast unbekannte Singer-Songwriter JESPER LINDELL auf seinem dritten Album "Before The Sun" Folk, Rock, Country, Blues und Soul verwebt, ist dann doch erstaunlich. Dass er seine Einflüsse von The Band und Bob Dylan über Ray Charles bis zu Van Morrison nicht schamhaft verbirgt, macht die Sache nicht schlechter, sondern nur ehrlicher. Ein Riesentalent mit edlen Songs und toller Stimme.

Punkte: 12/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.03.2024

Tracklist

  1. One Of These Rainy Days
  2. Before The Sun
  3. Never Gonna Last
  4. Good Evening
  5. A Little Light In The Dark
  6. Howlin
  7. A Strange Goodbye
  8. Honesty Is No Excuse
  9. Brunnsvik
  10. Do Me In

Besetzung

  • Bass

    Anton Lindell

  • Gesang

    Jesper Lindell, Kassi Valazza

  • Gitarre

    Jesper Lindell, Jimmy Reimers

  • Keys

    Carl Michael Junior Lindvall, Rasmus Fors

  • Schlagzeug

    Simon Wilhelmsson

  • Sonstiges

    Christer Falk (Saxophon), Mimmi Anterot, Jonathan Kronevik (Trompete), Markus Ahlberg (Posaune), Jonathan Kronevik (Tuba), Rasmus Fors (Akkordeon), Martin Björklund (Mandoline), Mikaela Holmberg, Jimmy Reimers (Background Vocals)

Sonstiges

  • Label

    GG Records/Bertus

  • Spieldauer

    41:18

  • Erscheinungsdatum

    01.03.2024

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