"Die Welt ist stehen geblieben, aber ich habe definitiv nicht aufgehört", sagt KAMASI WASHINGTON über die Anfänge seines neuen, wiederum meisterhaften Albums "Fearless Movement". Die globale Pandemie - für viele Künstler mit lähmenden Effekten bis hin zur Schockstarre verbunden - brachte den wohl wichtigsten, kreativsten Jazz-Musiker seiner Generation nicht aus dem Tritt. Auch die Geburt des ersten Kindes inspirierte den seit rund zehn Jahren führenden Saxophonisten eher, als dass ihn dieses Ereignis ablenkte: "Das sind zwei ziemlich große und monumentale Dinge, die gleichzeitig passieren. Eines, das jeden verändern würde, und eines, das jeden verändert hat."
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Man darf es sich als niedliche Idylle vorstellen, wie der Hüne KAMASI WASHINGTON und die kleine Asha während der Covid-bedingten Tourneepausen gemeinsam "Lieblingsplatten von John Coltrane, Ornette Coleman und Eric Dolphy" hören - so beschreibt sein Label Young die häusliche Vater-Tochter-Harmonie. "Ich wollte ihr all die beste Musik zeigen", sagt der 43-Jährige. Als sie knapp zwei Jahre alt war, fiel Asha eine Melodie ein, aus der schließlich ein Stück auf "Fearless Movement" wurde. "Wir spielten auf dem Klavier, und sie spielte sie einfach immer wieder." So leicht kann große Musik entstehen. Denn groß ist auch diese Platte wieder - ein Jazz-Epos, das erneut Vergleiche mit den Ikonen eines traditionsreichen Genres gestattet.
Die FAZ etwa schrieb dieser Tage: "In seinen opulenten Stücken kann man mühelos zu den Wurzeln der Musik bei Heroen wie Charlie Parker, Sonny Rollins, John Coltrane oder Pharoah Sanders durchdringen." KAMASI WASHINGTON ist sich seiner Wirkung als neuer Gigant des Jazz offensichtlich auch bewusst: Schon für "The Epic" (2015) und "Heaven And Earth" (2018) wusste er sich optisch zu inszenieren - auf dem Cover von "Fearless Movement" posiert er nun wie ein moderner afrikanischer König vor einem großformatigen abstrakten Gemälde. Die archaische Würde wird indes konterkariert durch ein lachend ins Bild rennendes kleines Mädchen - eben jene Tochter Asha, die das aktuelle Werk des Saxophonisten, Komponisten und Bandleaders beeinflusst hat.
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Im Vergleich zu den beiden vielfach ausgezeichneten Vorgängeralben mit 173 beziehungsweise 183 Minuten Gesamtspielzeit fällt "Fearless Movement" fast bescheiden aus - die fünfte Studioplatte von KAMASI WASHINGTON ist 'nur' gut 86 Minuten lang. Aber diese knapp eineinhalb Stunden bieten alles, was die vielen Fans dieses ungemein renommierten und populären Musikers (als einer von wenigen Jazzern unserer Zeit erreicht er hohe Popcharts-Platzierungen) erwarten: Spiritual Jazz, Soul, Funk, Gospel, Hip-Hop - zusammengerührt mit fabelhafter Expertise zu all diesen Genres und mit großer Neugier für die Zukunft eines so ambitionierten wie massentauglichen Jazz.
KAMASI WASHINGTON ist also weiterhin ein furchtloser Grenzüberschreiter (der Albumtitel "Fearless Movement" spielt darauf an), er umgibt sich dafür aber gern mit vertrauten Musikern seiner kalifornischen Westcoast-Jazz-Community.
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So sind auch auf auf den zwölf bis zu dreizehneinhalb Minuten langen neuen Tracks befreundete Kolleginnen und Kollegen wie Sängerin Patrice Quinn, Bassist Miles Mosley, Keyboarder Brandon Coleman, Pianist Cameron Graves, Bassist Thundercat und die Schlagzeuger Ronald Bruner Jr. und Tony Austin zu hören - seine Kernbesetzung also. Zugleich integriert der Bandleader Promis wie P-Funk-Legende George Clinton oder Hip-Hop-Ikone Andre 3000 (als Flötist) in seinen mächtigen, brodelnden Sound.
Doch nie hat man den Eindruck, dass dieses Album lediglich ein schnödes "Featuring"-Starvehikel oder eine Bühne für exzellente Selbstdarsteller sein könnte. "Fearless Movement" bleibt immer eine quirlige Band-Platte, in der KAMASI WASHINGTON den ruhenden Pol gibt, der andere Musiker glänzen lässt - um dann seinerseits explosive Sax-Soli einzustreuen. Und was für welche.
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Die Ausgangsthese des Komponisten lautete diesmal: Wir sind alle als elastische Wesen geboren - wenn man allerdings nicht in Bewegung bleibt, verliert man diese körperliche Fähigkeit. Deshalb sei der Tanz das zentrale Thema von "Fearless Movement", quasi als Metapher für Flexibilität. "Wenn die Leute hören, dass ich ein Tanzalbum mache, ist das nicht wörtlich gemeint", räumt KAMASI WASHINGTON ein. "Tanz ist Bewegung und Ausdruck, und in gewisser Weise ist es das Gleiche wie Musik - man drückt seinen Geist durch seinen Körper aus. Das ist es, was dieses Album antreibt."
Modische Dancefloor-Beats sind also auch von "Fearless Movement" nicht zu erwarten - es geht mehr um eine Haltung. Viele Stücke unterscheiden sich daher nicht grundlegend von früheren Kompositionen: kraftvoll-virtuoses Gebläse des Meisters, Rap-Salven, Solo- und Chorgesänge, dazu Trompete, Posaune und Flöte, ausladende Piano-Soli, viel Druck von Mosley und Thundercat am Bass sowie gleich mehreren Drummern und Percussionisten. Immer noch alles episch-opulent angelegt, vielleicht etwas rhythmischer ausgerichtet als zuvor.
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Das längste Stück der Platte ist zugleich einer ihrer Höhepunkte: "Road To Self (KO)" schwelgt in prächtigsten Melodien, exzellenten Soli und fulminanten Grooves. Ähnlich mitreißend gelingt der "Prologue", den KAMASI WASHINGTON freilich ans Ende der Platte gesetzt hat.
Begonnen hatte "Fearless Movement" rund 80 Minuten davor mit einem Gebet in Ge'ez, der Sprache der äthiopisch-orthodoxen Bibel. Der Opener "Lesanu“ sei "eine Widmung an einen verstorbenen Freund von mir und ein Moment, in dem ich für meinen Weg danke. Vater zu sein bedeutet, dass der Horizont deines Lebens plötzlich auftaucht. Meine Sterblichkeit wurde mir bewusster, aber auch meine Unsterblichkeit - ich erkannte, dass meine Tochter weiterleben und Dinge sehen wird, die ich nie sehen werde. Ich musste mich damit abfinden, und das wirkte sich auf die Musik aus, die ich machte."
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FAZIT: Dankbarkeit, Bewegungsdrang, eine Geburt: Persönliches und Privates schlagen auf dem neuen Album von KAMASI WASHINGTON diesmal stärker durch als das Spirituelle früherer Großwerke. Das Ergebnis bleibt letztlich aber das gleiche: himmlisch schöne, hochintellektuelle und doch zugängliche Musik fürs Hier und Jetzt, gespielt mit ehrfurchtgebietender Kennerschaft und Klasse. "Fearless Movement" dürfte - wie schon seine beiden monumentalen Vorgänger - den Diskurs über Jazz in Gegenwart und Zukunft prägen.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 03.05.2024
Miles Mosley, Stephen 'Thundercat' Bruner, Ben Williams
Patrice Quinn, Dwight Tribble, George Clinton, Taj Austin, Ras Austin, BJ the Chicago Kid, D Smoke, Henok Elias, Banchamlak Abegaze
Woody Aplanalp, Joel Whitley
Brandon Coleman, Cameron Graves, DJ Battlecat
Ronald Bruner Jr., Tony Austin, Robert Miller, Allakoi Peete, Kahlil Cummings, Carlos Nino
Kamasi Washington (Tenor-Saxophon, Alt-Saxophon), Terrace Martin (Alt-Saxophon), Dontae Winslow (Trompete), Ryan Porter (Posaune), Rickey Washington, André 3000 (Flöte
Young
86:16
03.05.2024