Auf dem Pop-Kultur Festival 2023 realisierte die Berliner Musikerin KATHARINA KOLLMANN eine Auftragsarbeit, für die sie mehrere ihrer musikalischen Projekte einsetzte: Mit ihrem Bandprojekt NICHTSEATTLE ist Kollmann seit 2017 aktiv, während sie in ihrer Freizeit den NACHBARSCHAFTSCHOR PRENZLAUER BERG leitet. Beide Formationen brachte sie damals für eine Live-Show zusammen und spielte dort dann in großer Besetzung mit Band, Chor, Streichern und Bläsern sowohl Songmaterial aus dem NICHTSEATTLE-Programm wie auch jene Cover-Songs, die sie mit dem (Laien-)Chor einstudiert hatte. Dieses Ereignis muss eine Art Erleuchtung auch für die Musikerin dargestellt haben und könnte sogar der Startpunkt für das nun vorliegende, dritte NICHTSEATTLE-Album „Haus“ gewesen sein. Denn während die beiden ersten Werke „Wendekind“ und „Kommunistenlibido“ noch eher sparsam inszenierte, spröde, teilweise gar frugale musikalische Angelegenheiten gewesen waren, griff KATHARINA KOLLMANN auf dem neuen Album, die „Big-Music“-Vibes der Veranstaltung vom Pop-Kultur-Festival 2023 auf und erweiterte das stimmungsmäßige und musikalische Spektrum ganz erheblich.
Zwar verzichtete sie darauf, den NACHBARSCHAFTSCHOR auch auf diesem Album einzusetzen – aber dennoch gibt es auf „Haus“ Chöre zu hören und dazu öfter auch die ganze Band mit Rock-Appeal, eine psychedelische Mundharmonika in „Treskowallee“ und Bläser auf den meisten Tracks. Dadurch ergibt sich ein im Vergleich zu früher eher fülliges Sounddesign, das der epischen Natur von Kollmanns wortreichen Songs entgegenkommt. Diese epische Natur rührt daher, dass sie die assoziativen Gedanken aus ihrem Unterbewusstsein auch schon mal gerne inhaltlich ungefiltert – oder andererseits mit mantraartigen Wiederholungen – auf ihr Publikum loslässt und dabei erzählerische Redundanz zum Mittel ihrer Wahl macht.
Die Tracks sind demzufolge auch für gewöhnlich recht lang. Gleich der erste Song „Krümel noch da“ erreicht beinahe die 7-Minuten-Grenze und lediglich die angeschrägte Indie-Pop-Nummer „Heiterprofan“ und der mit Chören angereicherte alternative Folk-Protest-Song „Attribute“ bleiben unterhalb der 4 Minuten Grenze.
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/GRV2d_78LCI?si=enosvyxRzE0QyIFR" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" referrerpolicy="strict-origin-when-cross-origin" allowfullscreen></iframe></center></br>
Dieses „Problem“ ist KATHARINA KOLLMANN aber durchaus bewusst: Bei der Live-Show auf dem Pop-Kultur Festival spielten NICHTSEATTLE eine Cover-Version von DAVID CROSBYs „Helplessly Waiting“, die nur halb so lang war, wie die eigenen Tracks. Damals erklärte sie dem Publikum mit übertriebener Demut, dass man die wirklich guten Stücke daran erkennen könnte, dass diese in 3 Minuten das aussagen würden, wozu sie immer ewig lange bräuchte. Ganz so schlimm, wie sie das damals darstellte, ist es aber gar nicht, denn in den Texten der Singer/Songwriterin geht es nicht darum, bestimmte Aussagen auf den Kern zu verdichten, sondern darum, komplexe, alltägliche Begebenheiten, Betrachtungen, Zustände und Querverbindungen anhand von kleinen Details auf charmant poetische Art zu schildern und sich so einen Überblick über das große Ganze zu verschaffen, was eben mehr Zeit benötigt.
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/DOVuTGm4hyM?si=N730FZJQz7UXLDkj" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" referrerpolicy="strict-origin-when-cross-origin" allowfullscreen></iframe></center></br>
Demzufolge wohnt ihren mit gebrauchspoetischen Umschreibungen angereicherten Wortschwallen auch eine archaische Urgewalt inne, die sie teilweise sogar selbst zu überraschen scheint. So kann es durchaus vorkommen, dass sie sich in Stücken wie der als Rezitativ angelegten Kontemplation „Fleissig“ oder wenn es wie in „Heiterprofen“ oder „Keinen Kaffee“ mal rockig zugeht, mit fast schon gutturaler Inbrunst gesanglich verwirklicht. Jedenfalls geht die emotionale Wirkung der ungekünstelten Präsentation des NICHTSEATTLE-Materials oft genug direkt in Herz und Bauch.
Einen besonders amüsanten Kunstgriff konzeptioneller Natur erlaubt sich KATHARINA KOLLMANN, indem sie das neue Album dem Leitmotiv „Haus“ unterordnet. Das geschieht deswegen, weil sie sich von der egozentrischen Betrachtung der ersten beiden NICHTSEATTLE-Alben lösen und das Umfeld stärker mit einbeziehen möchte – und zu diesem Umfeld gehören neben Bekannten, Freunden und Familie eben auch die Orte, an denen die Erzählung stattfindet. Demzufolge ordnet sie jedem Songtitel eine Ergänzung in Form einer eher liberal ausgelegten möglichen Wohnsituation zu. So z. B. „Altbau-“ bzw. „Plattenbauwohnung“, „Schloss“, „Papierhaus“ oder „Zelt“ - aber auch erweiterte Raumgebilde wie „Schirmpilz“, „Werkstatt“, „Proberaum“ oder „Türrahmen“ (also Bereiche, wo man zwar nicht wohnen, sich aber aufhalten kann).
<br><center><iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/6VaBlrA45No?si=eflrl1P3Rrl_Eo3Q" title="YouTube video player" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" referrerpolicy="strict-origin-when-cross-origin" allowfullscreen></iframe></center></br>
Musikalisch hat KATHARINA KOLLMANN auf diesem Album das Konzept perfektioniert, sich als Songwriterin oft an einem einzigen – aber strukturell, harmonisch und melodisch ausgefeilten und variantenreich in Szene gesetzten - Riff entlang zu hangeln und so der Gefahr, die Tracks mit ihren lyrischen Ergüssen etwa zu sprengen, auf geschickte Weise aushebelt. Prominentes Beispiel für dieses Prinzip ist „Unterstand (Schirmpilz)“, bei dem sich das besagte Riff als Leitlinie durch den Song schlängelt, anstelle eines klassischen Refrains dann aber eine dynamische Verstärkung geboten wird, die Band und Chor mit großer Intensität und Hingabe auf ein ganz eigenes Level hieven, welches dann doch wieder im Gedächtnis hängen bleibt.
FAZIT: Mit ihren verschiedenen Projekten – etwa dem NACHBARSCHAFTSCHOR, NICHTSEATTLE oder dem Solo-Projekt LAKE FELIX bedient KATHARINA KOLLMANN entsprechend unterschiedliche musikalische Ausdrucksmöglichkeiten, die in ihrer Grundtendenz aber alle von einer gewissen charmant-naiven, empathischen Imperfektion geprägt sind. Hier kommt es nie auf Schönklang, saubere Spieltechnik oder absolute Tontreue an, sondern ausschließlich auf die zu vermittelnden Gefühle. Insofern ist es interessant, dass sich NICHTSEATTLE für die Produktion des Albums „Haus“ erneut unter die Fittiche des Produzenten OLAF O.P.A.L. begeben haben, der – dieses Mal unterstützt von SÖNKE TORPUS – seine Aufgabe darin sieht, die angesprochene Imperfektion im Mix einfach gut klingen zu lassen, anstatt zu versuchen, mit den heute möglichen Hilfsmitteln, etwaige Unebenheiten produktionstechnisch auszugleichen. In Sachen Konsequenz und Credibility können NICHTSEATTLE in Kombination mit dem exzellenten Songmaterial somit in jeder Hinsicht überzeugen.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.04.2024
Juliane Graf
Katharina Kollmann
Katharina Kollmann, Sebastian Wiege
Sebastian Albin
Gregor Lehner (Flügelhorn)
staatsakt
66:02
12.04.2024