<img src="http://vg02.met.vgwort.de/na/fc12b2e3461943e89cd27864258e0d7d" width="1" height="1" alt=""> Mikael Åkerfeldt kann nicht fassen, wie geil "The Last Will and Testament" ist, sagt er selbst, und das will bei einem selbstkritischen Musiker wie dem OPETH-Mastermind etwas heißen. Beim 14. Album der Schweden handelt es sich um ein Konzeptwerk ähnlich wie "My Arms, Your Hearse" (1998) oder "Still Life" (1999), bloß ist die Handlung weniger abstrakt (wenn auch bewusst vage gehalten) und wird auch konsequenter erzählerisch umgesetzt. Es geht um das Erbe, das ein reicher, konservativer Patriarch seinen Kindern und einer kranken Ziehtochter der Familie hinterlässt, wobei der Plot mit der Verlesung des Testaments beginnt, weshalb fast alle Songs schlicht den Paragraphen des Dokuments entsprechend nummeriert wurden.
"The Last Will And Testament" klingt anders als alles, was Opeth bislang veröffentlicht haben, und lässt sich trotzdem eindeutig der Band zuordnen, weil alle ihre Markenzeichen enthalten sind - wie im Zuge der Vorab-Singles längst bekannt sein dürfte, auch Mikaels Growls, die tatsächlich einen Löwenanteil der Gesangsparts ausmachen.
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Der Frontmann war der alleinige Komponist des Materials und hat nur die Songtexte mit seiner Lebensgefährtin Klara Rönnqvist Fors (Crucified Barbara) geschrieben. Für die Streicherarrangements zog die Gruppe wie bereits zuvor Canterbury-Jazzrock-Legende Dave Stewart (Egg, Khan) hinzu. Das Studiodebüt des von Paradise Lost abgeworbenen neuen Drummers Waltteri Väyrynen - der hier Fabelleistungen vollbringt - wurde über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg komponiert und dann in mehreren Studios aufgenommen, gemixt und gemastert. Das angemessen gespenstische Artwork stammt erneut von dem Amerikaner Travis Smith, der Plattentitel wurde übrigens von 'The Last Will and Testament of Emma Peel' beflügelt, einem Stück von Steven Wilsons Projekt Incredible Expanding Mindfuck.
Die erste Vorab-Single '§1' spannt sozusagen den atmosphärischen Rahmen des Albums auf, mit dem sich Opeth in einem völlig eigenen Klanguniversum bewegen - samt Anregungen, die sich die Band von anderen geholt hat: So stammt die Idee fürs Intro (Schritte und eine sich öffnende Tür) von der belgischen Prog-Band Univers Zero, während die eigentliche Musik alte Tugenden - die Growls, das nervöse Schlagzeugspiel - mit frischen Impulsen verbindet, aber vor allem eines ist… düster, abgründig, beunruhigend. Die ergänzenden Soundeffekte wurden laut Åkerfeldt überwiegend per Mellotron erzeugt, Jethro-Tull-Kopf Ian Anderson gibt hier zum ersten Mal einen Sprechpart zum Besten, der die gespenstische Stimmung zusammen mit der Stimme von Åkerfeldts jüngster Tochter Mirjam weiter verdichtet.
War der Opener so hibbelig wie eingängig, beginnt '§2' ruhig und wird vom Fender Rhodes Piano geprägt (Inspiration hier: die schwedische Jazzrock-Combo Solar Plexus). Spätestens jetzt merkt man: Auf "The Last Will and Testament" passiert unter der Oberfläche unheimlich viel, wobei Andersons Stimme - Europes Joey Tempest als Background-Sänger ist eher unerheblich - im Dialog mit Åkerfeldt zu stehen scheint; Opeth gelingt der Kniff, das inhaltliche Konzept jederzeit präsent zu halten, ohne die Songs an sich zu kompromittieren, gleichwohl sie sich selbstverständlich abseits ausgetretener Pfade bewegen.
Dies gilt insbesondere für die Songstrukturen, aber auch und gerade für Mikaels klaren Gesang. Die Melodien sind derart unkonventionell, dass sich das Album allzu plumper Emotionalität entzieht (falls man diese überhaupt jemals von Opeth vorgesetzt bekam). Das macht es langfristig umso spannender, da man es nicht mit einem bestimmten Gefühl assoziiert, sondern sich quasi in einem fluiden oder offenen Geisteszustand damit auseinandersetzen kann. Als Referenz für die Vocals kommt Scott Walkers Spätwerk "The Drift" (2006) in den Sinn, was auch deshalb nicht abwegig ist, weil Åkerfeldt den verstorbenen Pop/Avantgarde-Crooner sehr schätzt.
Und wer nach den letzten Alben daran zweifelt: Doch, Opeth sind immer noch eine Metal-Band, wie '§3' beweist. Die dramatischen (Unisono-)Parts der Gruppenmitglieder mit dem London Session Orchestra widersprechen diesem Fakt genauso wenig wie Handklatschen als integraler Bestandteil des Stücks. Im folgenden '§4' ist Anderson an seinem Hauptinstrument Querflöte zu hören, doch die eigentliche Attraktion ist der Crossover, den das Quintett vollzieht: Leicht orientalische Melodien gegenüber nachgerade atonalen Momenten, ein Harfen-Break, funky Grooves (Bassist Martín Méndez sei noch einmal gesondert hervorgehoben)… Vieles ist möglich auf diesem Album, wenn auch nicht alles, denn die Musiker zeigen nicht einfach nur, was geht - das zu sagen erübrigt sich nach all den Jahren eigentlich -, sondern integrieren alle Ideen sinnvoll in das übergeordnete Konzept.
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"The Last Will and Testament" ist ergo auch ein besonders absichtsvolles Album, selbst wenn man nicht ohne weiteres hinter die Absicht einer Nummer wie '§5' kommt. Es ist der längste Track der Platte und eines der letzten dafür komponierten Stücke, also konnte sich Åkerfeldt damit weit aus dem Fenster lehnen, weil er schon wusste, dass er genug starkes Material in der Hand hatte. Er ist nach dem Frage-Antwort-Spiel gestrickt, mit brodelnden (Percussion-)Rhythmen durchsetzt und eine der technisch anspruchsvollsten Opeth-Kompositionen bislang - dicht gefolgt von '§6'.
Hier beginnt alles relativ schlicht und wird zunehmend komplexer, wobei das treibende Tempo im gesamten Verlauf unverändert bleibt und das Orchester eine erhebende Stimmung erzeugt. Nach diesem atmosphärischen Höhepunkt gerät '§7' zu einem düsteren, Riff-basierten Groover; ursprünglich schwebte der Band hier Tom G. Warrior als Gast-Sänger vor, doch Mikael traute sich nicht, ihn zu fragen, ober er sich dazu bereiterklären würde. Andersons Spoken Words und Flöte erhalten die Verbindung zu den vorangegangenen Stücken aufrecht, bevor das abschließende und einzig "richtig" betitelte Lied mehr oder weniger aus der Art schlägt.
'A Story Never Told' ist eine einfach schöne und ziemlich Opeth-typische Ballade zum Schwärmen und Schmachten (trotz ungerader Taktart) und hörbar von Bands wie Camel inspiriert. Wer die erzählte Story nun aufdröseln kann, darf sich glücklich schätzen; wer es nicht schafft oder kein Interesse daran hat, hört die Platte einfach erneut… und viele weitere Male.
Man wird sie nicht leid.
FAZIT: "The Last Will and Testament" zementiert OPETHs Ausnahmestellung weiter, so abgedroschen sich diese Feststellung auch lesen mag. Die Band klingt einzigartig, verfügt über herausragende handwerkliche Qualitäten und hat einen Visionär als Leader, dessen Einfallsreichtum und Fähigkeit, Neues aus dem Werk teils obskurster alter Bands zu formen, schier unerschöpflich zu sein scheinen. Schön und gut, dass Alt-Fans ihre extremen Vocals zurückhaben, doch was das Album an Innovation und musikhistorischer Schwere zugleich zu bieten hat, macht es vor allem zu einem Magnum Opus für die Zukunft.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.11.2024
Martín Méndez
Mikael Åkerfeldt, Fredrik Åkesson Mirjam Mikael Åkerfeldt, Ian Anderson, Joey Tempest
Mikael Åkerfeldt, Fredrik Åkesson
Joakim Svalberg
Waltteri Väyrynen
Ian Anderson (Flöte), Mia Westlund (Harfe)
Reigning Phoenix / Rough Trade
50:52
22.11.2024