Zweifelsohne genügt es der aus dem beschaulichen Derbyshire stammenden britischen Songwriterin PARIS PALOMA nicht, sich nahtlos in die Riege trauriger, junger Folk-Queens einzureihen, als die sie ihre Karriere noch im DIY-Modus gestartet hatte. Schon als sie sich 2022 erstmals in ein professionelles Studio begab, um dort ihren inzwischen zum viralen Hit gewordenen Durchbruchs-Song „Labour“ mit großem Besteck einzuspielen, wurde deutlich, dass PARIS PALOMA etwas Größeres im Sinn hatte. „Labour“ war nicht mehr oder minder eine orchestral (und choral) inszenierte, feministische Hymne über die überzogenen Erwartungshaltungen, die in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft von Männern an Frauen herangetragen werden – und somit eine Art Grundsatzprogramm in Form eines brillanten Folk-Pop-Songs.
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Das Thema vertieft die Musikerin nun auch auf der vorliegenden Debüt-EP mit kämpferischer Note in weiteren Songs wie „Bugs, Boys & Men“ oder mit umgekehrten Vorzeichen in „Drywall“. Auch der Track „Labour“ ist auf „Cacophony“ enthalten – allerdings in einem im Vergleich zur ersten Einspielung gedämpfteren und entschleunigten Form – was unweigerlich den Eindruck erweckt, als sei PARIS PALOMAS Wut über die Zustände mittlerweile etwas verraucht. Aber wie sie selber sagt, liebt sie die „wilden, weiblichen Aspekte“ ihrer Kunst dann doch so sehr, dass sie diese zu einem Leitmotiv für sich und ihre inzwischen zahlreiche Gefolgschaft machte.
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Dennoch ist „Cacophony“ kein reines feministisches Empowerment-Statement geworden – denn dazu hat sie einfach zu viele Inspirationsquellen. Diese reichen von den eigenen Zeichnungen (wovon eine auch das Cover des Albums ziert) über surrealistische Vorbilder wie die Künstlerin Ithell Colquhon, Griechische Mythologie, Mystik, Fabeln, Philosophie, Literatur, Mode und nicht zuletzt die von ihr selbst immer wieder angeführten Vorbilder HOZIER und FLORENCE & THE MACHINE. Letztere sind aus ihrer aktuellen Musik zwar nicht mehr konkret herauszuhören, aber die Auflösung konventioneller Songstrukturen und eine wegen der geschickt gestaffelten Backing-Chöre dezidiert liturgische Note liegen ihr dann doch schon am Herzen.
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Bestes Beispiel hierfür ist der wunderlich angelegte Opener „My Mind (Now)“, in dem sich PARIS PALOMA über ein – tatsächlich liturgisch anmutendes - A-Capella-Mantra des Satzes „What Did I Do Wrong?“ musikalisch in eine Art orgiastischen Rausch hineinsteigert, den sie mit einer gewissen gesanglichen Naivität konterkariert, bis am Ende der Eingangssatz als Kinderlied wieder zum Vorschein kommt.
Geradlinigkeit und Eingängigkeit sind dabei nicht das, was sie und der Produzent Justin Clasco sich zum Credo gemacht haben – weder musikalisch noch inhaltlich. Während ihre Texte (die immer vor der Musik entstehen) in blumige, poetische Metaphern, Aphorismen, Bilder und Gleichnisse gekleidet sind, ist Clasco stets bemüht, dem ein gleichsam vielschichtiges, jedoch im wesentlichen überraschend zurückhaltendes musikalisches Äquivalent entgegenzusetzen. Das ergibt ein reichhaltiges Füllhorn an Details, Stimmungen, Andeutungen und konkreten Aussagen. Insofern ist „Cacophony“ weder eine klassische Singer/Songwriter-Scheibe noch ein typisches Pop-Album geworden, sondern eher der komplexe Soundtrack zu der Reise ins Ich, auf die die Musikerin ihre Zuhörer mitnimmt – und sich dabei gelegentlich als Archetypin des weiblichen Geschlechts empfiehlt.
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Musikalisch ist in dieser Beziehung vieles möglich – vom Folk der Anfangstage, hier repräsentiert durch den älteren Single Titel „Yeti“, den sie mit George Cramer aka OLD SEA BRIGADE einspielte, über den leichtfüßigen Pop etwa der Tracks „Drywall“ und „Boys Bugs And Men“, die sanft rockende Single „As Good As A Reason“, expressionistische Klangmalerei à la „Escape Pod“ oder eben die Experimentierlust, welche in „My Mind (Now)“ zum Tragen kommt. Vor allen Dingen sind es aber die vielen Nuancen und Zwischentöne, die dieses Album sicherlich für längere Zeit interessant machen.
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Auch wenn der Titel des Albums „Cacophony“ anderes vermuten lässt, ist das Debütalbum von PARIS PALOMA kein besonders wildes Album. Der Titel referenziert eine Zeile aus STEPHEN FRYS Buch „Mythos“ - die in etwa besagt, dass das Leben dereinst aus dem Chaos entsprang - und bezieht sich somit auf den unsortierten Bereich ihres Geistes, wo sie ihre Ängste, Zwangsstörungen und Traumata verwaltet (wie sie sagt). Dafür wiederum ist „Cacophony“ zwischen Folk-, Dream-, Psychedelia- und Kook-Pop erstaunlich versöhnlich und organisch ausgerichtet.
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FAZIT: PARIS PALOMA hat sich mit ihrem Debüt-Album „Cacophony“ ein ambitioniertes Projekt vor die Brust genommen. Sicherlich gelingt ihr dabei nicht alles – was aber aufgrund der enormen inhaltlichen Ansprüche (und Widersprüche) auch nicht überraschend erscheint. Freilich muss der Wagemut, mit dem sich die Musikerin hier gleich mehreren relevanten Themen zuwendet und dabei musikalisch eher ihrer Intuition als einem Plan folgt, anerkannt werden. Sicherlich wird man auch in Zukunft noch so einiges Relevantes von dieser bemerkenswerten Songwriterin hören. Der Erfolg ist ihr jedenfalls jetzt schon nicht mehr zu nehmen: Ihre erste anstehende Europa-Tour war schon vor dem Erscheinen der LP ausverkauft.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 07.09.2024
Nettwerk
56:17
30.08.2024