<b>„Ich arbeite gerne mit Menschen … Ich mag die kleinen Gruppen. Es macht Spaß, zusammen eine Tasse Tee zu trinken und die Köpfe zusammenzustecken und an Musik zu arbeiten … Ich war nie ein Solist und fühle mich wohler innerhalb einer Gruppe.“</b> (Paul McCartney im Falt-Cover-Einleger von „One Hand Clapping“)
Was waren das noch für Zeiten, als man als Fan und Musiksammler so etwa seit den 70er-Jahren wie wild heimlich mitgeschnittenen Live-Aufnahmen seiner Lieblingsbands hinterherjagte, die oft in ziemlich mieser Qualität vorlagen, aber ihres Seltenheitswertes wegen echtes Gold wert waren. Einige dieser Bootleg-Goldstücke (größtenteils von PINK FLOYD und FRANK ZAPPA) hat der Kritiker in seinem Plattenschrank stehen und würde sie aus heutiger Sicht für kein Geld dieser Welt hergeben.
Diese raren, heimlichen, unerlaubt in ganz geringer Stückzahl gepressten und nie von einem Label oder einer Band freigegebenen Aufnahmen nennt man Bootleg. Allerdings wurde durch die voranschreitende Digitalisierung der Wert und die hochpreisige Nachfrage nach solchen Vinyl-Aufnahmen immer geringer und damit der Wert der vorhandenen LPs im Grunde immer höher.
Andererseits gab es auch Musiker (allen voran FRANK ZAPPA mit seiner sechsteiligen Doppel-CD-Serie „You Can't Do That On Stage Anymore“), die aus der Live-Not eine Tugend machten und die von ihnen heimlich gebootlegten Aufnahmen selber als offizielle Konzert-Mitschnitte in deutlich besserer Qualität veröffentlichten, weil diese selber hochwertig von ihnen mitgeschnitten worden waren. Damit versuchten sie durchaus erfolgreich, den Bootlegern den Garaus zu machen, da diese eben auf Kosten der Musiker und ohne deren Erlaubnis mit ihrer (geklauten) Musik Geld zu machen versuchten.
Wozu solch ein Vorwort?
Einfache Antwort: Eins der begehrtesten Bootlegs war ein Konzertmitschnitt von PAUL MCCARTNEY & THE WINGS aus dem Jahr 1974.
Heute also, am 14. Juni 2024, erscheint nach sage und schreibe einem halben Jahrhundert mit der Doppel-LP „One Hand Clapping“ eines der am meisten gebootlegten Live-Alben der Musikgeschichte endlich als offizielle Veröffentlichung. Und zwar auf fettem 180 Gramm Vinyl - völlig neu gemixt und in den Abbey Road Studios remastert. Nun also ist dieses Album mit dem ironischen Titel „Applaus mit einer Hand“ (Bei dem hoffentlich nicht gleich wieder alle 'Übermoralstandsbewahrer' wegen Diskriminierung aufschreien werden, die sollten sich besser zu den Einbeinigen auf einer Arschtreter-Party gesellen, und sich ausheulen!) endlich raus – und enthält dreisprachig auch seiner historischen Bedeutung wegen im Einleger den Hinweis: „1963 nahmen die BEATLES ihr erstes Album 'Please Please Me' im gleichen Studio in London auf – 3 Abbey Road. Seitdem sind in dem Studio nicht einmal die Wände gestrichen worden. Geoff Emerick, der Toningenieur, war der Meinung, es würde die Akustik ruinieren.“
Es verwundert natürlich nicht, dass gerade diese Live-Aufnahme aus den Abbey Road Studios in London des Jahres 1974 besonders begehrt war, denn schließlich befanden sich die WINGS, die McCartney mit seiner Frau Linda und Denny Laine von THE MOODY BLUES 1971 gegründet hatte und die natürlich von den BEATLES-Fans einerseits sehr neugierig, aber andererseits auch sehr skeptisch beäugt wurden, 1974 bereits auf ihrem etwa vierjährigen Zenit (der nach ihrem einzigen Nummer-1-Hit „Mull Of Kintyre“ enden sollte)...
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...auch wenn sie immer wieder der Vorwurf verfolgte, dass sie zu sehr einen auf Soft-Rocker statt auf BEATLES-Bewahrer machten. Jedenfalls lag das Jahr 1974 zwischen ihren beiden großartigsten Alben <a href="http://www.musikreviews.de/reviews/2024/Paul-McCartney--Wings/Band-On-The-Run/" target="_blank" rel="nofollow">„Band On The Run“ (1973)</a> und „Venus And Mars“ (1975), die als einzige in England wie Amerika den Spitzenplatz der Charts erobern sollten: Und mittendrin nun „One Hand Clapping“, das maßgeblich von den WINGS-Songs dieser Ära geprägt war und in gewisser Weise auch die unendliche Spielfreude der ungemein sympathisch erscheinenden Band widerspiegelte.
Im August 1974, als „Band On The Run“ bereits sieben Wochen lang die Spitze der britischen Albumcharts besetzte, begaben sich die WINGS in die Abbey Road Studios, mit der Absicht, eine Videodokumentation und ein eventuelles Live-Album, besagtes „One Hand Clapping“ aufzunehmen.
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Schon im Vorfeld war bei den Fans die Nachfrage diesbezüglich überwältigend, doch „One Hand Clapping“ sollte trotz aller, noch dazu in guter Qualität vorhandener Aufnahmen nie offiziell erscheinen. Bis zum heutigen Tage – an dem das Warten ein Ende hat!
Beginnend mit einem instrumentalen Jam, der als Titelsong für die angedachte Dokumentation auserkoren war und ein paar zusätzliche Gesprächsfetzen enthält, jagt nun ein live im Abbey Road Studio (mal spärlich instrumentiert, mal mit riesigem Orchester-Bombast und Saxophon-Einlagen des neu hinzugewonnenen Howie Casey) eingespielter WINGS-Hit („Band On The Run“, „Live And Let Die“, „Jet“, „My Love“) den nächsten, wobei mit „Let It Be", „The Long and Winding Road" und „Lady Madonna" (alle auf der LP-C-Seite) auch ein paar echte BEATLES-Klassiker nicht fehlen.
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Mit „Go Now“ bekommt sogar das (ehemalige) MOODIE BLUES- und nun WINGS-Mitglied die Chance, einen Song seiner ehemaligen Band nicht nur mit einzuspielen, sondern auch zu singen.
Der schlüpfrigste Song „Hi, Hi, Hi“ (McCartney dazu: „Ich nehme an, es ist ein bisschen ein schmutziges Lied, wenn Sex schmutzig und unanständig ist. Ich war in Spanien in einer sinnlichen Stimmung, als ich es schrieb. Für mich war es nur ein Song zum Abschluss unseres Auftritts und da er gut ankam, als wir auf dem Kontinent tourten, dachte ich, es wäre eine gute Single. Ich denke, es ist die beste Single, die wir als Wings je gemacht haben.“), dem man nach wie vor ein paar sexuell anrüchige Ambitionen unterstellt, schließt dann dieses hervorragend klingende Doppel-Album, dessen beide LPs in einem LP-Schuber stecken und ein dreisprachigen (englisch, französisch, deutsch), sechsflügeligen Einleger enthalten, ab.
Summa summarum eine Veröffentlichung, an dem alle BEATLES- wie WINGS-Freunde wohl nicht herumkommen.
Absolut lohnenswert.
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FAZIT: Der WINGS-Gitarrist Jimmy McCulloch war im August 1974 gemeinsam mit PAUL MCCARTNEY & WINGS mit folgender Absicht in die Abbey Road Studios (und zwar genau in dem Raum, in dem die BEATLES 1963 ihr erstes Album aufgenommen hatten) gegangen: „Ich möchte ein Wahnsinnsalbum mit Paul und der Band produzieren. Ich will, dass wir stolz darauf sind, und dass es wertgeschätzt wird.“ Im Jahr 1974 jedenfalls wurden diese live im Studio mitgeschnittenen Aufnahmen nicht zu dem, wonach sich McCulloch, der nur vier Jahre später an einer Überdosis Morphin und Alkohol den Tod finden sollte, so sehr gesehnt hatte. So darf er nun – ein halbes Jahrhundert später – nicht mehr miterleben, dass sein damaliger Musikertraum, der bisher nur als Bootleg durch die Musikgeschichte geisterte, erstmals offiziell in großartiger Qualität (Abbey Road Remaster) als Doppel-Album veröffentlicht wird. Und dass hiermit auch für viele WINGS-, MCCARNEY- und BEATLES-Fans ein Traum in Erfüllung geht, ist bei dieser Qualität (musikalisch wie soundtechnisch, wobei man an der Gestaltung noch etwas hätte feilen können) selbstverständlich.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.06.2024
Paul McCartney
Paul McCartney, Danny Laine
Danny Laine, Jimmy McCulloch, Paul McCartney
Paul McCartney, Linda McCartney, Danny Laine
Geoff Britton
Linda McCartney (Tamburin, Hintergrundgesang), Jimmy McCulloch (Hintergrundgesang)
Capitol Records/Universal Music
83:20
14.06.2024