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Paul Weller: 66

Stil: Britpop, Soul, Folk, Singer-Songwriter, Jazz, Psychedelic-Rock

Cover: Paul Weller: 66

Auf PR-Fotos (und vermutlich auch im wirklichen Leben, mit Ehefrau Hannah und Kindern) kommt PAUL WELLER stets daher wie aus dem Ei gepellt - ein Mode-Stilist bis zum obersten geschlossenen Knopf seines Fred-Perry-Shirts. Dass er langsam aber sicher auf die Siebzig zugeht, merkt man dem früheren Mod-Punkrocker (mit The Jam), ehemaligen Soul-Jazzer (mit The Style Council) und ewig Suchenden (als Solokünstler) trotz der Fältchen im markant schmalen Gesicht nicht an. Doch da steht nun ganz unübersehbar die Zahl "66" auf dem Cover seines 17. Albums in 35 Jahren unter eigener Flagge, dem 28. insgesamt seit 1977. 

Es ist ein klares, stolzes oder auch nur achselzuckendes Bekenntnis zum eigenen Alter - WELLER wurde am 25. Mai 1958 geboren. Der Albumtitel scheint klarzumachen, dass der früher gelegentlich als Dad-Rocker bespöttelte Britpop-Fixstern inzwischen zum Granddad-Rocker geworden ist - und kein Problem damit hat. Er selbst bietet im "Guardian"-Interview noch eine zweite Lesart der Cover-Ziffern an: "1966, das war 'Tomorrow Never Knows' (von den Beatles), und das muss erstmal übertroffen werden im Hinblick auf einen vorwärtsstrebenden, futuristischen Sound. Und beim Fußball war es das einzige Jahr, in dem wir Engländer die Weltmeisterschaft gewonnen haben."
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Mit "66" (regulär zwölf Tracks, in der CD-Deluxe-Edition sogar 16 - dazu mehr gegen Ende dieser Review) erfindet sich der Engländer nicht neu, fasst aber zumindest sein Post-Jam-Schaffen kongenial zusammen. Wie ein Greatest-Hits-Album mit lauter frischen WELLER-Songs klingt dieses tolle Album. Soul ("Rise Up Singing", "Soul Wandering") und nobler Folk ("Ship Of Fools", "I Woke Up"), knackiger Brit-Rock ("Jumble Queen") und französisch angehauchter Walzer-Pop à la Style Council ("My Best Friend's Coat"), dezente Disco-Funk-Experimente ("Flying Fish") und feine Burt-Bacharach- oder Nick-Drake-Aromen ("Nothing", "A Glimpse Of You") - alles fließt hier völlig schwerelos zusammen, mit der an den späten David Bowie erinnernden Ballade "Burn Out" als krönendem Schlusspunkt. 

Und PAUL WELLER (der dem Alkohol schon länger abgeschworen hat, aber weiterhin raucht) singt wie ein Gott. Jedes Lebensjahr obendrauf scheint seine angeraute Stimme noch besser, runder, seelenvoller zu machen - es ist wie bei gutem Whiskey oder Rotwein. Der Ex-Mod als großer Crooner.

Das erwähnte Album-Cover zu "66" wurde vom britischen Pop-Art-Künstler Peter Blake gestaltet, der sich schon vor fast 60 Jahren mit dem Patchwork zu "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" der Fab Four seinen Platz in der Musikgeschichte sicherte - und für WELLER das Artwork von dessen erfolgreichster Soloplatte "Stanley Road" (1995) malte. Da ist also schon mal Kontinuität zu spüren. Auch stilistisch blickt der Singer-Songwriter wieder zurück, ohne langweilig nostalgisch zu klingen: "Ich schaue immer mal wieder bei den Beatles und den Kinks vorbei, weil ich damit aufgewachsen bin, aber die wahre Inspiration kommt von heutigen Leuten, die großartige Sachen machen", sagte PAUL WELLER gerade erst dem UK-Musikmagazin "Mojo".
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So sind auf "66" das angesagte US-Soul-Trio Say She She, Christophe Vaillant vom französischen Quintett Le SuperHomard und die Sheffield-Pop-Legende Richard Hawley (neues Album "In This City They Call You Love" ab 31. Mai) zu hören. Außerdem hat sich Paul Weller diesmal in vielen Stücken das Songwriting geteilt - sein alter Kumpel Noel Gallagher (Ex-Oasis), der einstige Red-Wedge-Genosse, Freund und Soul-Bruder "Dr. Robert" Howard (The Blow Monkeys, neues Album "Together/Alone" ab 31. Mai), Bobby Gillespie (Primal Scream) und Graham "Suggs" McPherson (Madness) steuerten Texte bei.

"Ich hatte es satt, immer das Gleiche auf verschiedene Weise zu sagen", erklärt PAUL WELLER im "Guardian"-Interview seine gewachsene Bereitschaft, die Hoheit über seine Lyrics abzugeben. "Je älter ich geworden bin, desto weniger habe ich zu sagen." Ein typisch trockener WELLER-Scherz, er fügt klarstellend hinzu: "Ich habe Jahre damit verbracht zu erklären: Warum hast du das geschrieben?" Diesmal gebe es für ihn also "eine Ausstiegsklausel. Du kannst mich fragen, was die Worte bedeuten, und ich kann sagen: Keine Ahnung, das musst du die fragen, die das geschrieben haben." Dem Magazin "Uncut" verriet WELLER immerhin, dass die Texte "auf der Suche nach Spiritualität in einer zunehmend feindlichen Welt" seien - und damit natürlich auch wieder politisch, wie von diesem Musiker gewohnt.

PAUL WELLER ist also weiterhin offen und neugierig, nicht umsonst heißt der letzte Song des Albums auf der sehr lohnenden 2-CD-Edition "Gotta Get On" (ungefähr: "Ich muss weiter"). Er verwaltet seine Legende mit "66" würdig - auch auf den vier Bonus-Tracks "Wheel Of Fortune" (Ska-Pop mit Klimperklavier), "In A Silent World"/"Now Is Here"  (Psychedelic-Folk) und "Gotta Get On" (Gospel-Soul) schlendert "The Changingman" (ein WELLER-Songtitel von "Stanley Road") lässig durch diverse Genres, denen er sich irgendwann schon mal gewidmet hat. Peinlich altväterlich klingt das trotzdem nie. Und wer weiß, vielleicht gewinnt WELLER ja demnächst sogar eine viel jüngere Pop-Ikone für ein Duett - begeistert genug geäußert hat er sich im "Mojo" jedenfalls ("Ich muss sagen, Billie Eilish ist verdammt großartig.").
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FAZIT: Der große PAUL WELLER ist, bei aller Traditionspflege, mutig genug, Neues und Unerwartetes zu wagen - immer nach dem selbstgewählten Motto: "Keep your feet on the ground and your head in the clouds." Auf "66" hat er sich davon verabschiedet, alle Texte unbedingt selbst schreiben zu müssen, ließ alte Freunde und jüngere Bewunderer mitmischen. Auch musikalisch klingt das Album frisch und inspiriert, mit einer formidablen Gesangs-Performance des Britpop-Meisters on top. Dieses Geburtstagsgeschenk zum 66. ist ein wunderschönes, altersweises "Spätwerk" - ein weiterer Karriere-Meilenstein, der auch 47 Jahre nach dem jugendlichen Start noch Lust auf mehr WELLER macht.

Punkte: 13/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 27.05.2024

Tracklist

  1. <b>CD:</b>
  2. Ship Of Fools
  3. Flying Fish
  4. Jumble Queen
  5. Nothing
  6. My Best Friend's Coat
  7. Rise Up Singing
  8. I Woke Up
  9. A Glimpse Of You
  10. Sleepy Hollow
  11. In Full Flight
  12. Soul Wandering
  13. Burn Out
  14. <b>Bonus-CD:</b>
  15. Wheel Of Fortune
  16. In A Silent World
  17. Now Is Here
  18. Gotta Get On

Besetzung

  • Bass

    Paul Weller, Josh McClorey, Christophe Vaillant, Jake Fletcher, Andy Crofts

  • Gesang

    Paul Weller, Say She She, Robert Howard, Leah Weller, Lorene Murzilli, Sumudi Jayatilaka, Luise Marshall, Jake Fletcher, Tom Heel, Steve Pilgrim

  • Gitarre

    Paul Weller, Steve Cradock, Christophe Vaillant, Steve Pilgrim, Tom Heel, Steve Brookes, Richard Hawley, Marco Rees

  • Keys

    Paul Weller, Christophe Vaillant, Max Beesley, Tom Heel, Charles Rees, Steve Brown

  • Schlagzeug

    Ben Gordelier

  • Sonstiges

    Steve Trigg, Dave Boraston, Pablo Mendelssohn (Trompete), Andy Gilliams, Tim Smart (Posaunen), Jacko Peake (Saxophon, Flöte), Anthony Gaylard, Paul Speare (Saxophone), Dave Boraston (Flügelhorn)

Sonstiges

  • Label

    Polydor/Universal

  • Spieldauer

    42:01 / 16:03 (Bonus-CD)

  • Erscheinungsdatum

    24.05.2024

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