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Reviews

Jeff Tweedy: Twilight Override

Stil: Folk, Artpop, Singer/Songwriter, Psychedelia, Americana, Country-Rock, Indie-Pop, Gospel

Cover: Jeff Tweedy: Twilight Override

<i>Feel free
Get yourself born in the USA
Love with a love they can't take away
Feel free

Feel free
Put your love above the parts you play
Keep your love away from what you get paid
Feel free

Feel free
Make a record with your friends
Sing a song that never ends
Feel free</i>

Insgesamt 18 Strophen wie diese umfasst "Feel Free" von JEFF TWEEDY. Es sind die schönsten und berührendsten Song-Lyrics dieses Jahres. Am Ende seines mantra-artigen, dylanesken Gospels beschwört der Frontmann und Mastermind von Wilco sinngemäß, dass man sich (gerade auch in den zerrissenen, kaputten USA) seine Menschenliebe nicht nehmen lassen, Gefühle über Geld stellen, Musik mit Freunden machen sollte - und am besten einen Song, der niemals endet. 

Gut sieben Minuten nimmt sich TWEEDY für dieses letztlich dann doch nicht unendliche, in zarte Töne gegossene Folk-Gebet. Aber Zeit hat er ja ohnehin reichlich auf seinem neuen Album "Twilight Override". Es ist nicht nur wegen der Spieldauer von über 111 Minuten das Opus magnum dieses großartigen Singer-Songwriters. Während die Solo-Alben von JEFF TWEEDY jenseits seiner höchst einflussreichen Indie-Folkrock-Band Wilco bisher mindestens solide, oft richtig gut, aber nie herausragend waren, ist das hier eine ganz andere Liga.
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111 Minuten - echt jetzt, in Zeiten immer geringerer Aufmerksamkeitsspannen? Als im Juli via "Mojo" die Nachricht von einem TWEEDY-Triple aufpoppte, veröffentlichte das britische Musikmagazin sogleich ein Interview mit diesem über alle Maßen fleißigen Songwriter, und der 58-Jährige beantwortete die im Raum stehende Frage, ob es denn nun wirklich gleich drei Platten mit fast zwei Stunden Musik sein mussten, in typisch lakonischer Tweedy-Manier (die man am besten im englischen Original genießt): "I don’t care if people think a triple record’s too long. I mean, fuck you! You don’t have to listen to it." 

Im übrigen sei der Aufwand (für ihn selbst und für die Hörer) inhaltlich gerechtfertigt: "Dies ist ein großes, offenherziges Bekenntnis, das entscheidende Statement meiner Solokarriere." "Twilight Override" sei sein Versuch, "etwas von der Schwere loszulassen und mein eigenes Licht heller strahlen zu lassen", schrieb der US-Amerikaner aus Chicago später auf Facebook. Und TWEEDY fügte, wie zum Trost, hinzu: "Die Produktion hat zwei Jahre gedauert - aber ihr braucht weniger als zwei Jahre, um es euch anzuhören!"
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So reiht sich JEFF TWEEDY mit "Twilight Override" in ein schmales Segment an Dreifach-Alben ein, von denen nur wenige wirklich über die gesamte Länge tragen, während die meisten (von Emerson, Lake & Palmer bis Kanye West) in editierter Form, mit weniger prätenziösem Sendungsbewusstsein, wohl besser geworden wären. George Harrisons "All Things Must Pass" (1970) war wohl eine der ersten unangreifbar wichtigen Triple-Platten der Rock-Geschichte, "Sandinista!" (1980) von The Clash wegen seiner Überlänge schon umstrittener, "Yessongs" (1973) von Yes und "The Last Waltz" (1978) von The Band fallen als Live-Mitschnitte aus der Wertung.
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Zuletzt sorgten "Have One On Me" (2010) von Joanna Newsom und "The Epic" (2015) von Kamasi Washington für allgemein beifälliges Nicken trotz ihrer enormen Spieldauer. Man muss nun kein Wilco-Aficionado sein - wie, zugegeben, dieser Schreiber einer ist -, um "Twilight Override" zu den gelungenen, ja essenziellen Triple-Werken zu zählen. Denn mal im Ernst, was sollte an einem Album falsch sein, von dessen 30 Songs kein einziger schwach oder überflüssig ist, mindestens ein Dutzend aber herausragend (übrigens auch im hohen Wilco-Maßstab). 

Wäre, in der Beschränkung auf ebendiese 12 bis 15 Über-Tracks, nun ein noch grandioseres, noch nachhaltigeres Meisterstück herausgekommen? Mag sein - aber dann wäre der besondere Zauber dieser gleichsam maßlosen Hörerfahrung, dieses schier unendlichen kreativen Flows, nicht derselbe gewesen. Nein, man möchte letztlich, von dem ins Psychedelische ausfransenden Indie-Folk-Opener "One Tiny Flower" bis zum die Kinks zitierenden, fröhlichen Gitarrenpop-Track "Enough" am Ende, kein einziges Lied auf dieser langen Reise durch die Gedankenwelt und Kompositionskunst von JEFF TWEEDY missen.
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Und man wird bei 30 Angeboten selbstredend mit jedem Durchlauf neue Lieblingslieder finden. "Parking Lot" beeindruckt mit sensiblen Spoken-Word-Anteilen, "No One's Moving On" mit Krautrock-Drive, "Lou Reed Was My Babysitter" setzt dem größten Miesepeter der Rock-Historie ein launiges Garagenrock-Denkmal (unbedingt das Video anschauen!), "New Orleans" und das Titelstück "Twilight Override" sind schlichtweg geniale Gitarren-Song, mit TWEEDY und seinem langjährigen Gefährten James Elkington in Hochform.
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Einige hauchzarte, von TWEEDYs so vertrauter, weltmüde-melancholischer, zärtlicher Stimme und nur etwas Gitarre, Geige und himmlischen Backing-Vocals getragene Lieder sind zu hören (Folk in allen Varianten und Verzweigungen ist insgesamt das stilistische Rückgrat von "Twilight Override"). Manchmal klingen die Sixties und Seventies durch, insbesondere Beatles und Beach Boys, aber auch Bob Dylan und Nick Drake ("Betrayed", "Stray Cats In Spain", "Too Real", "Cry Baby Cry"). Und immer mal wieder verzaubert ein sanftes, beruhigendes Gospel-Feeling, das der Wilco-Boss spätestens als Produzent der großen Spiritual-Soul-Dame Mavis Staples lieben gelernt hat - wie schon erwähnt im zentralen "Feel Free", aber auch in "Ain't It A Shame". 

FAZIT: Mit "Feel Free", dem bewegendsten Song dieses Jahres aus den USA, stimmt JEFF TWEEDY sich selbst, seine Liebsten, seine Hörer darauf ein, auch angesichts der katastrophalen Entwicklungen in seiner Heimat innere Freiheit, Lebensfreude, Zuversicht nicht preiszugeben. Eine Art "Die Gedanken sind frei!" für das sich autoritär entwickelnde 21. Jahrhundert, zumindest für die bleierne Trump-Zeit. Am Schluss singt dieser kluge, einfühlsame Songwriter: "Feel free/make a record with your friends/sing a song that never ends/feel free". Und man möchte tatsächlich, dass dieses wunderbare Mutmacher-Lied, dass das meisterhafte Triple-Album "Twilight Override" nicht endet. Danke für fast zwei Stunden Seelenbalsam, Jeff!
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Punkte: 14/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 06.10.2025

Tracklist

  1. <b>CD/LP 1</b> (39:24)
  2. One Tiny Flower
  3. Caught Up In the Past
  4. Parking Lot
  5. Forever Never Ends
  6. Love Is For Love
  7. Mirror
  8. Secret Door
  9. Betrayed
  10. Sign of Life
  11. Throwaway Lines
  12. <b>CD/LP 2</b> (35:42)
  13. KC Rain (No Wonder)
  14. Out in the Dark
  15. Better Song
  16. New Orleans
  17. Over My Head (Everything Goes)
  18. Western Clear Skies
  19. Blank Baby
  20. No One's Moving On
  21. Feel Free
  22. <b>CD/LP 3</b> (36:29)
  23. Lou Reed Was My Babysitter
  24. Amar Bharati
  25. Wedding Cake
  26. Stray Cats in Spain
  27. Ain't It a Shame
  28. Twilight Override
  29. Too Real
  30. This Is How It Ends
  31. Saddest Eyes
  32. Cry Baby Cry
  33. Enough

Besetzung

  • Bass

    Liam Kazar, Jeff Tweedy

  • Gesang

    Jeff Tweedy, Macie Stewart, Sima Cunningham, Spencer Tweedy, Sammy Tweedy, Liam Kazar

  • Gitarre

    Jeff Tweedy, James Elkington, Liam Kazar

  • Keys

    Jeff Tweedy, Macie Stewart, Sima Cunningham, Spencer Tweedy, Sammy Tweedy, Liam Kazar, James Elkington

  • Schlagzeug

    Spencer Tweedy

  • Sonstiges

    Macie Stewart (Geige), James Elkington (Mandoline)

Sonstiges

  • Label

    dBpm Records

  • Spieldauer

    111:35 (39:24, 35:42, 36:29)

  • Erscheinungsdatum

    26.09.2025

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