"Entweder ich bin bipolar/oder es liegt an der Stadt/muss ja, wenn ick könnte, wie ick wollte/kann ick aber nicht/am Ende hat man das, was man liebhat/einfach satt/Ein Cocktail aus schlechter Laune/und ambitionierter Angst...", singt MASHA QRELLA, teilweise im Berliner Dialekt. Und nicht nur in den Text des vielfach preisgekrönten Journalisten und Schriftstellers Alexander Osang ("Die Nachrichten", "Lennon ist tot") verliebt man sich sofort - sondern auch in die Coolness und Lakonie, mit der die Musikerin aus Berlin-Pankow ihr eigenes ambivalentes Verhältnis zur Geburts- und Heimatstadt an der Spree besingt.
MASHA QRELLA hat einen also gleich wieder mal am Haken. Und falls es im Dezember eine sehr spezielle Rubrik "Die besten Berlin-Songs des Jahres" geben sollte, steht der Sieger schon fest. Oder vielmehr die Siegerin. Mit "Wut und Glück", aus dem die so nonchalant gesungenen Osang-Zitate stammen, hat die 49-Jährige nämlich auch ein wunderbar geschmeidiges Trip-Hop-/Dub-Reggae-Stück komponiert, das nun als Highlight ihr neues Album mit dem schlichten Titel "Songbook" ziert.
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"Ein befreundeter polnischer Musiker (Kuba Galinsky) bat mich 2019 um einen deutschsprachigen Gesangsbeitrag für ein neues Projekt. Ich las gerade einen Essay von Alexander Osang über Berlin - eine Abrechnung und Liebeserklärung zugleich", erklärt die ursprünglich aus der Berliner Nineties-Postrock-Szene mit den Bands Contriva und Mina stammende Multiinstrumentalistin in ihren Liner-Notes zu "Wut und Glück". "Ich mochte den Track von Kuba und hatte noch den Text von Osang im Kopf und sang ein paar Zeilen aus dem Text zu dem Track. Das war noch vor meinem Album "Woanders", und ich fremdelte noch ein bisschen mit der deutschen Sprache als Gesangssprache. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich gut finde. Aber ich schickte es Kuba als Entwurf. Er fand es super und kündigte weitere Tracks an."
Aus dem Galinsky-Projekt sei dann zwar "leider nie was geworden", aber MASHA QRELLA holte sich "das Okay von Kuba und Alexander Osang, den Song in einer überarbeiteten Version auf meiner "Songbook"-Platte zu verewigen, es von seinem Festplattendasein zu befreien und endlich auch mal singend zu berlinern". Schön, dass das geklappt hat. Und dass der Rest von "Songbook", dieser Qrella-Soloplatte voller "Lieblingslieder", aus denen vorher "nie was geworden" ist, kaum weniger stark ausfällt.
Ob das Verbindende zwischen den zwölf "Songbook"-Titeln womöglich ist, dass es keine Verbindung gibt? MASHA QRELLA empfindet es keineswegs so, dass dieses Album eine willkürlich zusammengestellte Wundertüte ist. "Die Verbindung bin ja ich", sagt sie freundlich-bestimmt im "Musikreviews"-Interview. "Ich finde schon, dass man die Songs in einen Zusammenhang stellen kann. Wenn sich keine Erzählung ergeben hätte für mich, hätte ich das wahrscheinlich auch nicht gemacht. Ich hatte erst an eine EP gedacht, und dann habe ich aber Gefallen daran gefunden, auch mal diese Seite ausführlicher zu erzählen: Nebenprojekte und liegen gebliebene Arbeiten, Momentaufnahmen von Begegnungen, die mir persönlich total wichtig sind und die oft zu kurz kommen in der Rezeption." Zumal "auch Ablehnung oder Scheitern ja Teil einer künstlerischen Biografie" seien.
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Nach dem 2021 erschienenen, bis in die großen Feuilletions abgefeierten Konzeptalbum "Woanders" mit Thomas-Brasch-Vertonungen, einem dazugehörigen preisgekrönten Hörspiel und vielen Live-Konzerten zeigt die Musikerin mit der hellen, angenehmen Indiepop-Stimme nun wieder neue Facetten. Gerade erst hatte sie mit der befreundeten Postrock-Kollegin Julia Kliemann (Komëit) im Frauen-Duo Halo das ambitionierte Neo-Krautrock-Album „In The Company Of No One“ (2024) vorgelegt, da biegt MASHA QRELLA mit sechs teils sehr unerwarteten Cover-Tracks und sechs eigenen Kompositionen um die Ecke.
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"Ja, ich glaube, wenn man das Album zum ersten Mal hört, ist man wahrscheinlich schon überrascht von der Zusammenstellung", sagt die als Mariana Kurella geborene Ost-Berlinerin. "Aber den Überraschungsmoment auf der Seite zu haben ist ja nicht das Schlechteste. Bei all der Unterschiedlichkeit der Songs - sie klingen so, wie ich sie interpretiere, zum Schluss ja doch vor allem nach mir." Vom ansteckend frühsommerlichen "Cool Breeze" der Jeremy Spencer Band über Whitney Houstons Welthit "I Wanna Dance With Somebody" in einer stark entschleunigten Indie-Folk-Version und "I Want To Break Free" von Queen ("Ich mochte die Songs einfach") bis zum Jazz-Klassiker "September In The Rain" - man muss hier wirklich mit fast allem rechnen, und selbst "guilty pleasures" der 80er-Jahre klingen bei MASHA QRELLA ganz unpeinlich.
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Besonders berührend gelingt "Um die weite Welt zu sehn", ein Flucht- und Fernweh-Lied, im Original von Manfred Krug, mit ordentlich Gitarren-Lärm am Schluss.
"Erst bin ich bei dem Song hängengeblieben, weil der für Manfred Krug ungewöhnlich mit so einem Lagerfeuergitarren-Thema anfängt und dann erst im Refrain diese typischen Krug-Jazz-Akkorde einsetzen", erläutert MASHA QRELLA ihre Idee. "Das konnte ich schnell nachspielen. Textlich war das erstmal nicht so überraschend. Das Bild von dem Typen, der Zigaretten holen geht und nicht wiederkommt, und die Erklärung dazu: "um die weite Welt zu sehen". Aber die zweite Strophe hat mich dann schon total überrascht, denn die Seite der Erzählung kannte ich von Krug noch nicht: "Oft hab ich mich geschämt, hab mir gesagt, Feigling, du lässt deine Leute im Stich". Und ich hab mich erinnert ,dass in der Generation meiner Eltern, in der DDR, die Leute Krug entweder geliebt oder gehasst haben. Das fand ich irgendwie interessant und dachte, da kann man vielleicht was erzählen, was man von Krug noch nicht so kennt."
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Experiment geglückt - eine vorbildliche, nachdenklich stimmende Cover-Version. Auch das Instrumentalstück "Erinnerungen an gestern", das hübsche "Crooked Dreams, Part 2" und "Nun lauft schon ihr Kleinen" (Musik für das Singspiel "Etwas Besseres als den Tod finden wir überall", eine Bühnen-Neuinterpretation des Bremer-Stadtmusikanten-Stoffs) betonen die melancholische Seite von MASHA QRELLA. Eingespielt hat sie die Platte mit vertrauten Studio-Könnern: Andi Haberl an den Drums, Andreas Bonkowski an Gitarre und Keys, Michael Mühlhaus am Piano und Bass, Martin Wenk von Calexico an der Trompete. "Ich bin schon sehr dankbar für die Zusammenarbeit und auch den Input, den jeder einzelne da reingegeben hat", sagt sie. "Das sind alles so großartige Musiker, und gerade auf diesem Album sind einige der Songs ja auch erst in der Begegnung entstanden."
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FAZIT: Wer befürchtet, dass eine Mischung aus Alt und Neu, Fremdem und Eigenem, deutschen und englischen Lyrics kein kohärentes Album ergibt, sondern eher eine seltsame Resterampe, kennt MASHA QRELLA nicht. Diese tolle Berliner Musikerin macht daraus eine liebevoll zusammengestellte, charmant-leichtfüßige und zugleich anspruchsvolle Indiepop-Platte. Ein "Songbook", das ihre gut 20-jährige Solokarriere perfekt zusammenfasst.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 03.04.2025
Andreas Bonkowski, Kuba Galinsky, Michael Mühlhaus
Masha Qrella, Andreas Bonkowski
Masha Qrella, Andreas Bonkowski
asha Qrella, Michael Mühlhaus
Andi Haberl, Tommy Baldu, Kuba Galinsky, Chikara Aoshima
Martin Wenk (Trompete)
Staatsakt/Bertus/Zebralution
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28.03.2025