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Steven Wilson - The Raven That Refused To Sing - Massen-Review

18.02.2013

Steven Wilson "The Raven That Refused To Sing" CoverMit seinem dritten Soloalbum meldet sich einer der umtriebigsten Musiker überhaupt zurück. "The Raven That Refused To Sing" hat STEVEN WILSON seinen neuesten Streich betitelt, der zwar schnell als Massen-Review-Kandiat auserkoren wurde, spontan aber auch die unterschiedlichsten Reaktionen hervorrief. Mit den Worten "Okay, bin raus. Was für ein selbstverliebtes Schwurbelzeugs." machte Kollege Chris P. schnell deutlich, dass er auf die Platte so gar keinen Bock habe, während Kollege Schiffmann, der sich gerne als Wilsons größter Kritiker sieht, das Album fortan in Dauerrotation laufen ließ. Das überraschende einstimmige Ergebnis rührt daher, dass Kollege Chris P. seinen Worten auch keine Taten folgen ließ, während sich unsere Proggies, die sonst eher selten bei Massen-Reviews mitmachen, rege beteiligten - und STEVEN WILSON damit unter die Top 3 unserer Massen-Review-Charts brachten.

Review von: Andreas Schiffmann (Profil)

"The Raven That Refused To Sing" ist im Vergleich zu seinem Vorgänger ein Quantensprung und entspricht als Studiofassung dem, was Steven Wilson und nicht zuletzt seine Mitstreiter während ihrer stupenden Live-Darbietungen angedeutet haben ... sagt jemand, der den Hansdampf mit den Griffeln in allzu vielen Töpfen von jeher gelinde gesagt sehr nüchtern betrachtet.

Das bereits bühnenerprobte "Luminol" beginnt wie ein Outtake von John Paul Jones' "Zooma" mit der Groove-Handschrift von OZRIC TENTACLES und den Musikern von GENTLE GIANT als Gastchor. Gesungen wird gleichwohl wenig; stattdessen stehen das im Detail unfassbare Drumming, Theo Travis' Flöte und ein Großteil des Synthesizer-Parks der letzten 30 Jahre im Vordergrund. Setzt die Rhythmusgruppe aus, klingen STORM CORROSION an, bloß dass Wilson eine klare Songstruktur beibehält, wo er sich mit Åkerfeldt verrannte. Das letzte Drittel klingt wie ein Tribut an gruseligen Symphonic Prog à la MORTE MACABRE oder MUSEO ROSENBACH, allerdings mit modernem Zug nach vorne.

Mit der beinahe schmalzigen Ballade "Drive Home" bestätigt sich die Vermutung, die Macher fokussierten das Lied an sich, denn Brechungen verzeichnen die rund acht Minuten zu keiner Sekunde: ein dank des lyrischen Texts und beschaulicher Melodie zündender Refrain sowie das zu Wilsons bislang besten Gitarrenmomenten überhaupt gehörende Solo am Ende genügen zu einer akustischen Sternstunde. Am Bläser-schwangeren "The Holy Drinker", einem "White Hammer" (VAN DER GRAAF GENERATOR) für die Neuzeit, darf man sich hinterher allerdings nicht verschlucken: Hier verbindet sich die Beat-Mathematik des Progressive Metal mit der kauzigen Anmutung prototypischer Psych-Bands (Textbedeutung? Nichts genaues weiß man nicht ...) und der Klangästhetik des MAHAVISHNU ORCHESTRA. Erst der Titeltrack am Ende versöhnt die Gemüter wieder, wurde mit Streichern sowie bauchigem Gitarrenton in Wolken gepackt und besitzt tatsächlich einen nahezu klischeehaften Post-Rock-Schluss.

Das mit fünf Minuten kürzeste Stück "The Pindrop" entwickelt sich nach verhaltenem Beginn zum relativ stringenten Antreiber mit virtuosem Saxofon-Solo und viel Stimme. Obzwar Wilson von jeher charismatisch klang, zeigt sich hier sowie spätestens seit der jüngsten Konzertreise, dass er sich rein technisch als Sänger sogar noch weiterentwickelt. Der folgende Longtrack "The Watchmaker" ist zweigeteilt, aber nicht schizophren: der fast Canterbury-proggige Beginn geleitet hinüber in einen dicht arrangierten Schlagabtausch der Melodieinstrumente, ehe Wilson wieder allein am Klavier sitzt, um sich selbst im Chor zu begleiten, dessen Harmonien glatt auf PURE REASON REVOLUTION schließen ließen, wüsste man es nicht besser. Einzelkünstler wie er nämlich, deren Geister ohne den Saft anderer überquellenden Füllhörnern der Kreativität gleichen, lassen sich heuer bestenfalls an einer Hand abzählen und im Allgemeinen eher nicht im Rock-Bereich finden, doch just dort ist auch dieser Mann weiterhin verankert, auch wenn ihn vermutlich weiterhin nicht wenige Kritiker irgendwelcher Jazz-Sünden bezichtigen möchten. Sind diese mit freier Musikalität gleichzusetzen, die beim Konsum von Fast Food - ob in der Küche oder unterm Kopfhörer - nur auf verfettete Granitohren stoßen kann, soll es eben so sein.

FAZIT: Mit "The Raven That Refused To Sing" wird Steven Wilson erstmals dem Anspruch gerecht, den man bis dato zu Unrecht für ihn erhoben hatte, nämlich ein Album vorzulegen, das es mit den Wegweisern aus der Blütezeit des Progressive Rock aufnimmt, ohne entweder zerfahren postmodern oder anachronistisch anzumuten. Das einzig Schlimme daran? Er entwertet PORCUPINE TREE.

13 von 15 Punkten


Review von: Andreas Schulz (Profil)


Die Solopfade des STEVEN WILSON werden immer breiter, während das Eis für seine Hauptband Porcupine Tree immer dünner zu werden scheint. Zumindest hat Arbeitsjunkie Wilson die Aktivität mit der Band in 2012 hinter seine Solotätigkeit priorisiert. Was auch der Vergleich der beiden Veröffentlichungen belegt: von Wilson gab es mit "get all you deserve" ein herausragendes audiovisuelles Livedokument, von Porcupine Tree mit "Octane Twisted" lediglich eine ganz ordentliche Live-CD.

Auf "get all you deserve" fand sich auch ein bis dato unveröffentlichter Song namens "Luminol", der sein neues Album "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" eröffnet. Eingeleitet von einem flockigen Basslauf, steigert sich der Song schnell in virtuose, progressiv-jazzige 70er-Sphären mitsamt Flötentönen, Bläsern und spektakulärem Drumming von Marco Minnemann, den man von seinen Auditions mit Dream Theater bzw. seiner Aktivität bei Ephel Duath und Necrophagist kennt. In den 12 Minuten, die der Song lang ist, nimmt verhältnismäßig sanfter Gesang nur eine untergeordnete Rolle ein, Abwechslungsreichtum im Arrangement und mitunter spektakuläre Instrumentierung dominieren, ohne dass sich der Song darin verliert. Und wie man von einem dramatischen, akustischen Sonnenaufgang in die Abfahrt mit tollen Gitarrenmelodien übergeht, ist wahrhaft beeindruckend. Das balladeske "Drive Home" wirkt dagegen beinahe schüchtern, aber auch wesentlich eingängiger. Akustische Gitarren, Streicher, Klavier, zarte Bläser und ebensolcher Gesang spielen in fragiler Schönheit zusammen, gekrönt von einem wahrlich großartigen Gitarrensolo.

Das selige Dahindösen wird vom düsteren "The Holy Drinker" (der natürlich zur Hölle fährt) jäh unterbunden. Unruhige, nervöse Bläser zerren an den Nerven, bevor der Song auch im Gesang zum rockigsten des Albums avanciert. "The Pindrop" wirkt zunächst introvertiert und in der Stimmung recht positiv, steigert sich aber wiederum in jazzige Regionen. Mit bezaubernder Bildhaftigkeit wird dann "The Watchmaker" besungen, eine melancholische Note verfehlt ihre Wirkung nicht und der Hörer wird sodann in eine Demonstration spielerischen Könnens mitgerissen, um zum Ende hin wieder sanft auf den Boden der klavierbegleiteten Tatsachen hinabgelassen zu werden. Der Titeltrack am Ende dient der Entspannung und erinnert mit seinen Postrock-Gitarren im Finale daran, dass wir 2013 haben und nicht 1973.

Aufgenommen wurde "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" mit einer Legende an den Reglern, nämlich Alan Parsons und natürlich hat das Album einen warmen Analogsound, der jedoch nicht altbacken klingt und im besten Falle im 5.1-Mix genossen werden kann.

FAZIT: Das in diversen Varianten erscheinenden Album ist selbst in der einfachsten CD-Version ein wunderbarer Progrock-Trip, für den es aus dem Bauch heraus zwölf Punkte gibt, obwohl man das Gefühl nicht los wird, dass es auch mehr sein könnten – oder müssten?

12 von 15 Punkten


Review von:  Lutz Koroleski
(Oger) (Profil)


Das dritte Steven Wilson-Solowerk klingt im direkten Vergleich mit "Grace For Drowning" wesentlich mehr auf den Punkt und gleichzeitig ein ganzes Stück knackiger. Vor allem das mächtig drückende, groovige Bass-Spiel fällt gleich beim Opener "Luminol" besonders auf. Es sorgt vor allem in der ersten Album-Hälfte mit dafür, dass die zahlreichen 70er-Prog-Bezüge nicht anachronistisch wirken, sondern das Ganze einen zeitgemäßen Anstrich bekommt. Noch präsenter als zuletzt sind die KING CRIMSON-Einflüsse. Das wirkt sich bei den herrlich-heftigen Schlussparts von "The Holy Drinker" oder "The Watchmaker" sehr positiv aus, während die frickeligen Jazz-Passagen (z.B. beim Intro von "Holy Drinker"), die durch die Saxophon-Einsätze noch ein Stückchen schräger wirken als ohnehin, wohl schlicht Geschmackssache sind. Ich mag sie nicht besonders. Das gilt auch für die (seltenen) JETHRO TULL-Gedächtnis-Flöten, die beim Original doch deutlich songdienlicher zum Einsatz kommen.

Bei den genannten Referenzen handelt es sich bei Herrn Wilsons Musik aber tatsächlich nur um die Würze des Gesamtgerichts. Mit einem Großteil des Songmaterials können auch Fans des restlichen Schaffens des Ouput-Junkies zügig warm werden. Zahlreiche balladeske Passagen ("Drive Home", "The Watchmaker", "The Raven That Refused To Sing") bieten diese für ihn so typischen melancholischen Melodien und Chor-Arrangements und erinnern dabei sogar öfter mal an BLACKFIELD ("Drive Home") denn an Wilsons sonstige Betätigungsfelder. Auch Liebhaber des letzten OPETH-Albums werden sicherlich auf ihre Kosten kommen, da hier eine ganz ähnliche Grund-Stimmung erzeugt wird.

Allerdings haben sich mir die wirklich fesselnden Melodien erst nach etlichen Durchläufen erschlossen. Aufgrund beeindruckender technischer und musikalischer Fähig- und Fertigkeiten sowie eines großartigen Soundgewands und jeder Menge Abwechslung kommt aber auch bis zur Zündung des finalen Funkens der Begeisterung keine wirkliche Langweile auf.

FAZIT: Auf mehr Härte, mehr Prog aber auch mehr stimmiges Songwriting als auf dem letztlich etwas langatmigen und kraftlosen Vorgänger können sich die zahlreiche Wilson-Jünger auf diesem Album freuen. Das erste Prog-Highlight des jungen Jahres und gleichzeitig das überzeugendste der bisherigen Solowerke des Meisters.

11 von 15 Punkten


Review von:  Markus L.
(Profil)


Schlägt man im Wörterbuch die Bedeutung des Begriffs "Workaholic" nach, wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn darunter beispielhaft der Name Steven Wilson fallen würde. Die Anzahl der Veröffentlichungen, an denen dieser entweder aktiv als Musiker oder passiv als Produzent beteiligt war, lässt sich kaum noch zählen. So überrascht es kaum, dass bereits ein Jahr nach der heiß diskutierten Kollaboration STORM CORROSION mit OPETHs Mikael Åkerfeldt bereits ein neues Werk des Briten vorliegt. "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" lautet der Titel seines dritten Solo-Outputs und bietet stilistisch den erwarteten Mix aus Prog, Rock und jazzigen Elementen.

Neu ist die tatkräftige Unterstützung eines festen Bandkollektivs. Die fünf Mitmusiker Wilsons sind dabei erwartungsgemäß keine Unbekannten. Hierfür konnten unter anderem illustre Namen wie Guthrie Govan und Marco Minnemann gewonnen werden. Letzterer dürfte vielen durch seine Arbeit für NECROPHAGIST oder die verfilmte Ausschreibung um die Nachfolge von Mike Portnoy bei DREAM THEATER ein Begriff sein. Während der ausgiebigen Tour für das vorangegangene "Grace For Drowning", hatte das so entstandene Bandgefüge Zeit zum Wachsen. Ein Prozess, der dem neuen Material hörbar gut getan hat.

Mit "Luminol" eröffnet ein Stück das 55-minütige Prog-Spektakel, das nicht nur bereits vielfach auf eben dieser Tour live performt wurde, sondern auch auf der 2012 erschienenen Live DVD "Get All You Deserve " zu finden ist. Diverse Solo-Eskapaden treffen hier auf detailverliebtes Drumming und gewohnt komplexe Arrangements, ohne dabei den Song als solchen aus dem Auge zu verlieren. Musikalisch wird der bisher beschrittene Weg somit nicht gänzlich verlassen, aber auch nicht konsequent fortgesetzt. Live-Tauglichkeit ersetzt die grenzenlose künstlerische Freiheit früherer Veröffentlichungen. Elektronische Beats oder opulente Orchestrierungen sucht man daher vergebens.

Dennoch fällt das neue Material nicht minder abwechslungsreich aus. Mit "Drive Home" zeigt sich das Sextett von seiner romantischen Seite. Minimalistischer, wenngleich nicht weniger komplex arrangiert, fällt die stellenweise an BLACKFIELD erinnernde Ballade aus. Getragen von Wilsons melancholischer Stimme samt einprägsamem Refrain, untermalt von Piano-Akkorden, akustischen Gitarren-Arpeggios und luftigen Synthesizer-Teppichen treibt der Song verspielt vor sich hin, um schließlich in einem herausragenden Gitarrensolo zu gipfeln. In eine ähnliche Kerbe schlägt "The Wachtmaker", nimmt jedoch im Verlauf mehr Fahrt auf und wandelt sich in ein vertracktes Stück klassischen progressiven Rocks.

Den gelungenen Eindruck verstärkt die erstklassige Produktion, die erfolgreich den Spagat zwischen warmem Analog-Sound und modernem druckvollen sowie differenzierten Klang meistert. Mehr als gewöhnlich muss jedoch für den maximalen Musikgenuss mit dem Lautstärkeregler der heimischen Hifi-Anlage gearbeitet werden, denn zugunsten maximaler Dynamik wurde sogar auf nachträgliches Mastering in Form von Kompression und Limiting verzichtet. Für die geneigte audiophile Hörerschaft ist das Album zudem als 5.1 Mix erhältlich.

FAZIT: Das neu geformte Bandgefüge gestaltet sich für Steven Wilson als Fluch und Segen zugleich. Das Gesamtpaket gewinnt an Homogenität und Struktur, verliert dafür jedoch die ausufernde Experimentierfreudigkeit, für die seine bisherigen Soloalben bekannt waren. Das schmälert die Qualität des neuen Materials zwar nicht direkt, hinterlässt aber dennoch einen faden Beigeschmack.

13 von 15 Punkten


Review von: Sascha Ganser (Profil)


Zwischen einem DEVIN TOWNSEND und einem STEVEN WILSON eröffnen sich derzeit gewisse Parallelen. Beide versuchen, einen Flow in ihrem Gesamtwerk auszukosten, solange er greifbar ist. Sie nehmen das Risiko in Kauf, durch rasche Veröffentlichungen infolge nach außen inflationär zu wirken, denn an oberster Stelle steht die Prämisse, dass Kreativität ein flüchtiges Gut sei, das es aufzufangen gilt, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Während aber Townsend seinen Glücksgefühlen nachjagt wie einem Schmetterling und damit eher psychologische Selbsttherapie betreibt, frönt Wilson, ohne allzu viel von sich selbst als Menschen preiszugeben, weiter der Liebe zum Exquisiten, Elitären und dem höchsten aller möglichen Niveaus, was ihn folgerichtig in die goldenen 70er führt. Damals regierte noch der scharlachrote König, bis ihn das Schicksal aller Könige ereilte und er von Pöbel Punk niedergerissen wurde.

Mit PORCUPINE TREE konnte Wilson dem Drang, eine Renaissance der großen Künste einzuleiten, nicht kompromisslos folgen, weil dies einen Stilbruch zur Folge gehabt hätte, der nicht begründbar gewesen wäre. Also begann er, seinen eigenen Namen einzusetzen, um sich in jede Richtung zu bewegen, in die er sich bewegen wollte. Nach der experimentellen Eichung mit "Insurgentes" war "Grace For Drowning" ein künstlerischer Triumph, ein überambitioniertes, prätentiöses und ausladendes Spektakel, das es zu hassen und zu lieben galt. KING CRIMSON hatte endlich seine Reinkarnation und der Progressive Rock, der seinerzeit wieder auf der Stelle zu treten pflegte, schien wieder eine Wendung zu nehmen.

Seither wird "Prog" oft mit einschichtigem Retro-Rock verwechselt, bei dem der Blick zurück mehr wert ist als derjenige nach vorne. STEVEN WILSON selbst bewegt sich diesbezüglich auf einem schmalen Grat, bedient er sich doch unverhohlen einer Musiksprache, wie sie vor 40 Jahren gepflegt wurde, verleugnet dadurch aber nicht seinen inneren Antrieb, die Zukunft ebnen zu wollen.

Für "The Raven That Refused To Sing" schließt das in erster Linie das Konzept ein. Wilsons wohl größter Coup ist es, den epochalen Umfang des vorhergehenden Zweiteilers nicht wieder aufzugreifen; stattdessen bietet er eine fast intim wirkende Geschichtenkollektion auf 54 Minuten, die mit dem naiven Gestus eines klassischen Märchens präsentiert wird. Schon im Zusatz "… and other stories" wird "Es war einmal" manifest, selbiges gilt für die durch den Titel geschürte Assoziation zu Edgar Allan Poe, und die jeweiligen Protagonisten der einzelnen Erzählungen werden vorgestellt und ihrem Schicksal zugeführt, wie um den Zuhörer einzulullen und ihn von den Problemen im eigenen Leben abzulenken.

Zusätzlich hat sich auch das Soundbild wieder gewandelt: Die Besetzung wurde organisch gewechselt (exemplarisch Minnemann, der auf der Tour die Songs von "Grace For Drowning" nachspielen durfte und nun selbst ins feste Ensemble aufgerückt ist). Ein Alan Parsons wurde sogar als Toningenieur engagiert - ein wahrer Besetzungsclou, bedenkt man, wie wählerisch Parsons sonst bei der Auswahl fremder Projekte ist, aber auch kaum mehr als ein Statement, zieht man in Betracht, was Parsons außerhalb dieser Rolle noch alles hätte beitragen können.

In der Nachbetrachtung ist Wilsons drittes vollwertiges Soloalbum nochmals eine Ausdefinierung und Verspitzung des Sounds gelungen, den er für "Grace For Drowning" erdacht hatte. Das bedeutet auch, dass sich Elemente wiederholen, nie jedoch auf eine oberflächliche Art und Weise; alte Ansätze werden aufgegriffen und zu neuen Ufern geführt, wenngleich der Opener "Luminol", bereits bekannt aus Live-Darbietungen, gewissermaßen auf der Stelle tritt – perfekt arrangiert schlägt er die Brücke zu "Raider" und anderen Frickeleien vom letzten Album und mutet folglich ein wenig an wie eine Zurschaustellung des Status Quo: Da steh ich nun, größer als je zuvor. Bläser und Flöten geben vor, KING CRIMSON und JETHRO TULL zu streicheln, nehmen sie sich tatsächlich aber mit aller Gewalt vor – Wilson lässt sein Kollektiv alle Register ziehen. Dass das Stück in einem kurzem "The Incident"-Moment aufgeht und dann ein Klavier-Intermezzo wie aus einer Jazzbar hervorzaubert, lässt Wilson gleich hier schon den Anspruch auf nicht weniger als Alles erheben, jazzig und wild, gefühlvoll und entspannt soll seine Story sein.

"Drive Home" ist gleich darauf aber beispielsweise eine Ballade, wie man sie von Wilson eben kennt: Dramatisch, leicht pathetisch und durchaus songorientiert, zum verträumten Mitsingen wie gemacht. Doch würde man nicht behaupten, dass sie bloß ein uninspirierter Aufguss von Ballade x oder y ist. Dass viele Fans die nicht unerheblichen Veränderungen Wilsons bis heute mitmachen, dürfte auch daran liegen, dass seine Musik geschickt auf zwei Ebenen operiert: Vertrautes lässt er wiederkehren, aber in neuem Licht glänzen.

Dem Muster wird auch im Weiteren gefolgt: Die Virtuosität des Openers schießt auch in den "Holy Drinker" wie ein Geistesblitz. Sich selbst schustert Wilson Gesangslinien zu, die er so auch für seinen Kumpel Åkerfeldt hätte schreiben können, während sich Govan, Beggs, Travis, Holzman und Minnemann wahrhaftig gegenseitig befruchten. "The Pindrop" ist noch der unauffälligste Beitrag, ein sich fast schon dem Postrock freundlich zuwendendes Zwischenspiel, das dank gewaltiger, hallender, repetitiver Gitarrenriffs OCEANSIZE aus der Ferne grüßt.

Den eigentlichen Geniestreich liefert das Album aber fraglos mit "The Watchmaker", das dem Anspruch, eine atmosphärische Kurzgeschichte zu sein, am meisten entspricht. Zu den ersten Minuten kann man sich hervorragend einen stummen Spielfilm vorstellen, der ohne Schnitt in einer fortwährenden Kamerafahrt um den Uhrenmacher schwingt. Es ist auch der unmittelbarste Track insofern, als dass er eine Erfahrung bereitstellt, die das Musikerensemble völlig verblassen lässt, weil es hinter die Geschichte tritt. Allenfalls Minnemanns akzentuiertes Spiel mit dem Besen ab Minute Viereinhalb ist so enorm eindringlich, dass man kaum anders kann als sie bemerken und ihr zu huldigen. Wenn die fast zwölf Minuten verstrichen sind, ist ein ganzer Wolkenbruch aus Zahnrädern niedergeprasselt und Wilson hat eines der großartigsten Stücke seiner an Highlights nicht armen Karriere vollendet.

Verweigert der Rabe zum Abschluss dann den Gesang, bedeutet das auch eine Quintessenz – Die Streicher des "Even Less"-Auftakts kehren zurück, verkünden diesmal aber drohendes Unheil, und dann wird ein einzelnes Motiv abwechselnd in Trauer und Hoffnung getaucht, wie um alle Seiten der Medaille unter einen Hut zu bringen. So universell einfach kann Musik manchmal sein.

FAZIT: Des überwältigenden Umwälzungseffektes, den "Grace For Drowning" mit sich trug, muss STEVEN WILSON diesmal entbehren – genau, wie er es stets mit all seinen anderen Projekten getan hat, widmet er sich seiner neu entdeckten Stilnische ein paar Alben lang, um dann wie ein heimatloser Vogel weiterzuziehen. "The Raven That Refused To Sing" ist das zweite Album des Briten in Folge mit einer ähnlichen Sprache (zählt man "Storm Corrosion" dazu, das Dritte), grenzt sich aber dank seines kompakten Formats und der gewechselten Besetzung, die so ungemein viel zum Album beiträgt, weit genug vom ersten ab. Wilson liefert theoretisch alle Argumente, sich noch ein, zwei Alben an seinem Neuen Großen Elitarismus zu erfreuen, noch ein, zwei weitere Legenden des Progressive Rocks einzuladen. Fest steht allerdings auch: Je länger er dieser Linie folgt, desto lauter werden mit Recht die Rufe nach der festen Bandkonstruktion der nicht minder legendären PORCUPINE TREE.

13 von 15 Punkten


Review von: Thoralf Koß (Profil)


Wenn ich ganz ehrlich bin – was natürlich immer der Fall ist – dann muss ich an dieser Stelle feststellen, dass meine wirklich hoch geschätzten Kritikerkollegen bereits vor mir alles gesagt und geschrieben haben, was dieses, für mich nunmehr beste, Album von STEVEN WILSON ausmacht. Bereits während des ersten Hörens war ich sprachlos von der unglaublich intensiven "klassischen" Prog-Rock-Atmosphäre, die "The Raven That Refused To Sing" innewohnt. Außerdem klingt das gesamte Album wie eine progressive Weltreise durch die unterschiedlichsten Stilistiken vom Italo-und Brit- sowie Ami-Prog bis hin zu den ausgefallensten Eckchen der Prog-Landkarte. Irgendwie wird jeder musikalische Freigeist, egal ob er nun auf Flötentöne oder E-Gitarren, Bombast oder Akustik, laute oder leise Klänge steht, bedient.

Wie selbstverständlich hören wir an allen Ecken und Kanten die Projekte, ob es nun KING CRIMSON, JETHRO TULL oder sonstwer sind, die Wilson gerade oder in jüngster Vergangenheit klanglich veredelt hat. Das musste Spuren in seiner Musik hinterlassen. Und es hinterließ Spuren, die so riesig sind wie die des Yetis. Es sind geheimnisvolle, neue Spuren, die in noch unentdeckte, geheimnisvolle Prog-Welten führen.

Wenn ich dann, als alter Ost-Prog-Experte, auch noch auf "The Holy Drinker" eindeutige Spuren in Richtung "Weißes Gold" der STERN-COMBO MEISSEN entdecken darf, verspüre ich sogar noch ein klein wenig von der Nostalgie, nach der ich immer wieder suche, wenn ich die von der Zeit lädierten LPs von SBB, NIEMEN, OMEGA, FERMATA, EAST oder COLLEGIUM MUSICUM aus meinem Plattenschrank hole und spüre, wie unglaublich frisch und innovativ deren Musik auch heute, über 30 Jahre später, noch klingt. Herzlichen Dank dafür, Herr Wilson.

FAZIT: Mein größter Wunsch für die progressive Zukunft wäre, dass sich ROBERT FRIPP und STEVEN WILSON zusammentun, ein paar andere Musik-Mitstreiter um sich versammeln und endlich wieder ein Album raushauen, das vielleicht "The Raven In The Court Of The Crimson King" heißt und unsere etwas zu eingefahrene, eingleisige Prog-Welt so richtig durchschüttelt.

14 von 15 Punkten


Review von: Jochen König (Profil)


STEVEN WILSON ist ein Meister der Reproduktion. Klanglich veredelte er die Discographie JETHRO TULLs, EMERSON, LAKE & PALMERs und KING CRIMSONs; der Einfluss letztgenannter Band war auf seinen letzten Solo-Alben kaum zu überhören, ebenso eine Hinwendung zum elektrifizierten Jazz. Geblieben ist die altbekannte Vorliebe für balladeske Melancholie. Gleichzeitig versteht es WILSON sich mit Musikern zu umgeben, die seine klanglichen und musikalischen Vorstellungen in Perfektion umsetzen. Nachzuhören (und zu sehen) auf der fantastischen Live-Aufnahme "Got What You Deserve". Auf der ein Appetizer des kommenden Studio-Albums zu finden war. "Luminol", der Opener von "The Raven That Refused To Sing", fand im Live-Kontext eine passende, mitreißende Umsetzung, ergänzte das ältere Material um eine stimmige Note.

Demgegenüber fällt die Studiovariante etwas ab. Die Musiker, angefangen bei Nick Beggs mit seinem voluminösen, präzisen Bassspiel, über Theo Travis atemlose Flötentöne und aggressives Saxophongebläse, zu Adam Holzman, der zwischen Canterbury und Jazz die Klaviatur hinauf- und hinabjagt, liefern eine Flut von Kabinettstückchen, während der Chef sich bis kurz vor Schluss vornehm zurückhält (während "Drive Home" spielt er allerdings eines der schönsten Gitarrensolos seiner Karriere), ehe im Finale das Mellotron explodiert. Und spätestens hier wird deutlich, was einen, bei aller Brillanz, an "Luminol" stört: man sehnt sich während des Climax nach "The Court Of The Crimson King". Das zwar nicht den komplexen Songaufbau von "Luminol" besitzt, aber in seiner bedrückenden Dramatik viel unmittelbarer wirkt. Wobei keine Missverständnisse aufkommen sollen: "Luminol" ist ein fulminanter Parforceritt, dem es gelingt, KING CRIMSON, einen Touch von VAN DER GRAAF GENERATOR, RETURN TO FOREVER und Gesangsharmonien á la C,S,N & Y zu verbinden ohne auseinanderzufallen. Hoher Technikwert (glücklicherweise abseits einer TRANSATLANTIC-Nabelschau) und ein bisschen Ergriffenheit. Doch auch Stirnrunzeln ob der leicht protzigen, abgeklärten Zurschaustellung des eigenen Vermögens.

Erlauben können es sich die Musiker allerdings. Kein Schwächeln, während STEVEN WILSON Bilanz zieht: Ein bisschen BLACKFIELD hier (Das Opening von "Drive Home"), ein Schuss STORM CORROSION da ("The Watchmaker"), bloß PORCUPINE TREE bleibt ein Schemen im Hintergrund (ähnliches gilt für PINK FLOYD-Verweise, die früher gerne eingebaut wurden. War WILSON eigentlich an den Immersion-Boxen beteiligt?). Zu den weiter oben genannten großen Alten gesellen sich stellenweise sogar die frühen GENESIS hinzu (ebenfalls "The Watchmaker").
Dass ALAN PARSONS soundtechnisch am Album beteiligt ist, ist ein netter Gag am Rande. WILSON selbst hätte es vermutlich auch ohne ihn ähnlich hinbekommen. Aber der Mann steht anscheinend auf Arbeitsteilung. Was ihn – wie schon beim Live-Auftritt in Mexiko – sympathisch macht.

"The Raven That Refused To Sing" ist ein akustischer Statusbericht, der funkelt und glänzt wie ein scharf geschliffener Diamant im Schein einer knallbunten Lichtorgel. Deren Energie aus der Vergangenheit gespeist wird. Noch reicht dies um zu glänzen, doch die ersten Ermüdungserscheinungen stellen sich ein. Das Flackern verblasst allmählich.

STEVEN WILSON ist ein Künstler, fürwahr, und wenn jemand den Begriff "Art Rock" für sich in Anspruch nehmen kann, dann er. Ob "The Raven That Refused To Sing" Höhepunkt oder Niedergang bedeutet, wird sich noch rausstellen. Im Moment vermag das Album ebenso zu begeistern wie fragende Blicke auszulösen. Denn so hinreißend es eingespielt wurde, so berückend manche Idee und ihre Ausführung auch ist: Nicht nur an den Rändern wird aus Kunst Künstlichkeit und neben all den klanglichen Ejakulationen macht sich ein wenig Langeweile breit. Zeit für etwas Neues. Bei der Umtriebigkeit STEVEN WILSONs wird man sicher nicht lange darauf warten müssen… oder es befürchten?

FAZIT: Kollege Schiffmann schreibt in seinem Fazit, dass er die Gefahr sieht, dass "The Raven That Refused To Sing" PORCUPINE TREE entwerte; dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Das Album lässt eine Wiederbelebung PORCUPINE TREEs nötiger denn je erscheinen. Nicht mehr die Signale anderer – zugegebenermaßen beeindruckend – verarbeiten, sondern selbst wieder welche setzen. Ein Mann tanzt im Schatten seiner Vorbilder und man möchte ihm zurufen: Tritt verdammt nochmal heraus, wir wissen, dass du es kannst. Doch er tanzt unbeirrt weiter. Und es ist immer noch verdammt verlockend ihm dabei zuzusehen und zuzuhören. Jedoch schleicht sich eine gewisse Distanziertheit ein. Sowie Fragen. Was bleibt, was kommt als nächstes?

"Vorbei und reines Nichts, vollkommnes Einerlei!
Was soll uns denn das ew'ge Schaffen!
Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!
«Da ist's vorbei!» Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewigleere."

Dass "The Raven That Refused To Sing" in diversen wertigen und hochwertigen Ausgaben erscheint, ist ja nahezu obligatorisch. Der sparsame Hörer komplexer Musik und/oder Grundkursbesucher des "The State of Art Rock"-Seminars gibt sich wahlweise mit der einfachen CD zufrieden oder der nur unwesentlich teureren "Special Edition" in Gestalt einer einzelnen BluRay. Vinyl-Fans bekommen ein stabiles 180-Gramm-Teil bei Begehren. Der wahre Fan, Klang- Aficionado oder examinierte "State Of The Art Rock"-Magister mit ordentlich Taschengeld greift zur Deluxe Edition (2 CDs + DVD + Blu-ray + 128seitiges Buch).

11 von 15 Punkten

Durchschnittspunktzahl: 12,43 von 15 Punkten

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Andreas Schulz (Info)