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St. Vincent: All Born Screaming (Review)

Artist:

St. Vincent

St. Vincent: All Born Screaming
Album:

All Born Screaming

Medium: CD/LP/Download
Stil:

Artpop, Singer-Songwriter, Indie-Rock, Electro-Pop, Alternative-Rock, Industrial

Label: Virgin Records
Spieldauer: 41:14
Erschienen: 26.04.2024
Website: [Link]

"Wenn man mit einem Schrei zur Welt kommt, ist das doch ein gutes Zeichen. Schließlich bedeutet es, dass man atmet. Dass man lebt. Mein Gott! Pure Freude… aber eben auch ein Protest. Wir alle kommen gewissermaßen protestierend auf die Welt. Es ist grausam, am Leben zu sein. Und es ist eine unfassbare Freude, am Leben zu sein. Es ist alles zugleich."

Es gibt originellere Review-Einstiege als mit einem Künstlerzitat. Andererseits sind die obigen Worte von Annie Clark alias ST. VINCENT eine Steilvorlage, weil sie den Titel ihres neuen Albums und den Sinn dahinter perfekt auf den Punkt bringen: die Zwiespältigkeit von "All Born Screaming", das so Wunder- wie Furchtbare des Menschseins auf diesem gequälten Planeten. Legen wir also ausnahmsweise los mit einem Zitat, weil es so wahr und weise ist. Aber nicht nur die Lyrics dieser Platte sind genaues, konzentriertes Zuhören wert - die Musik ist es auch. Wie eigentlich immer bei dieser hochbegabten Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin. 

Wie ihre gern als Chamäleons bezeichneten Vorbilder (vor allem David Bowie, aber auch Prince oder David Byrne) lässt sich ST. VINCENT stilistisch einfach nicht fassen, nicht in eine bestimmte Schublade stecken - und wird somit auch nach fast 20 Solo-Jahren im Musikbusiness nie langweilig.


Nach dem clever-coolen Seventies-Soulpop des Vorgängers "Daddy's Home" (2021) ist Annie Clark jetzt schon wieder woanders - bei einem wuchtigen, düsteren Electro-Rock mit Einflüssen von Industrial bis Reggae. Und auch "All Born Screaming" ist - bei dieser stets inspirierten und inspirierenden Künstlerin wiederum ganz und gar keine Überraschung - absolut glaubwürdig und kompetent umgesetzt. 

Besonders als Sängerin glänzt Clark hier mit so vielen Facetten, dass man ihre Leistung kaum mit dem noch etwas schüchternen Vortrag der ersten ST. VINCENT-Alben "Marry Me" (2007) und "Actor" (2009) zusammenbringt. Beispiel "Violent Times": Falls es jemals wieder einen "007"-Film mit dafür notwendigem Eröffnungssong geben sollte, kommt man an einem Lied der Drama-Preisklasse von ST. VINCENT für den oder die neue(n) Bond eigentlich nicht vorbei. Ganz großes Star-Kino, inklusive mächtigem Gebläse. Also bitte keine langweilige Wahl beim nächsten musikalischen Entree für den Meisterspion.


Daneben zeigt sich Annie Clark auch als Gitarristin wieder von ihrer besten Seite - etwa in "Sweetest Fruit" oder in "So Many Planets" mit knappen, rohen, ungeheuer prägnanten Ausbrüchen an der Sechssaitigen, wie sie nur wenige Musiker (ob Männlein oder Weiblein) an diesem Instrument hinbekommen. Dass "da auch so etwas Böses, Aggressives und Abgründiges in Clarks Gitarrenspiel lauert", stellt das Label Virgin völlig zu Recht fest - und verweist darauf, dass "ihre Noise-Band während der College-Zeit auf den Namen Skull Fuckers hörte".

"Auf dieser Platte gibt es keine Drogen, auch keine Abstraktion. Stattdessen geht’s direkt zur Sache, rein ins Fleisch, rein in diesen Lebenshunger, auch wenn’s brutal wird. Denn das Leben ist schließlich brutal", sagt ST. VINCENT selbst über das teilweise beängstigend finstere Klangbild von "All Born Screaming". Schon der Albumtitel bezieht sich ja darauf, dass jedes Leben mit enthemmtem Geschrei beginnt, sobald der Mensch auf diese Welt losgelassen wird (beziehungsweise sie erdulden muss). Der Opener heißt folgerichtig "Hell Is Near", der zweite, ähnlich heftige Song "Reckless", der dritte, ebenso gnadenlose Track "Broken Man". Man kann "All Born Screaming" durchaus als das "Black Album" von ST. VINCENT bezeichnen. 


Zudem ist dies die erste Studioplatte, die Clark komplett selbst produziert hat, nachdem sie bei sämtlichen Vorgängern als Co-Produzentin beteiligt war. "Bei dem hier musste ich einfach ganz allein durch die Flammen gehen", meint die 41-Jährige aus Tulsa/Oklahoma. "Anders hätte diese Suche zu nichts geführt. Ich musste allein mit mir selbst in einem Raum sitzen, drauflos singen, mit modularen Synthesizern herumspielen, Knöpfe drehen, Stromflüsse umleiten, und dann diese sechs Sekunden ausfindig machen, in denen alles passt – um daraus dann einen ganzen Song zu bauen." Sie zitiert ein bereits erwähntes Chamäleon-Idol: "Wie Bowie schon sagte: Wenn du das Gefühl hast, dass deine Füße den Boden nicht ganz berühren – dann bist du am richtigen Ort, um etwas Aufregendes zu tun."

Ganz allein war ST. VINCENT freilich nicht, um "etwas Aufregendes zu tun". Dabei half ihr "ein kleines, eingeschworenes Abrisskommando, eine kuratierte Gruppe von absoluten Rippern": Zum Beispiel saß bei "Broken Man" und "Flea" Dave Grohl von Nirvana und den Foo Fighters an den Drums. "Dave ist einfach einer der größten Schlagzeuger aller Zeiten … weil er auch ein grandioser Songwriter ist", sagt Clark voller Respekt. "Ich sitze im Stuhl, höre den ersten Take – und muss sofort aufstehen. Mir stehen die Haare zu Berge.“ 

Außerdem schauten der neue Foo-Fighters-Drummer Josh Freese, Justin Meldal-Johnsen (Bass), Rachel Eckroth (Keys), David Ralicke (Blasinstrumente), der Jazz-Schlagzeugvirtuose Mark Giuliana und Stella Mozgawa von Warpaint (ebenfalls an den Drums) im Studio vorbei. Und nicht zuletzt am Bass und als Ratgeberin Cate Le Bon, die ja schon das neueste Wilco-Album "Cousin" im Vorjahr so ungemein bereichert hatte.

Ist "All Born Screaming" am Ende bei all seiner Dunkelheit ein abweisendes oder unzugängliches Album? Keineswegs. "Ich habe vermutlich einen ziemlich großen Umweg genommen, um das mit dieser Platte zum Ausdruck zu bringen, aber letzten Endes ist es ein sehr düsteres Album über die Liebe", sagt Annie Clark. "Da ist so viel Liebe in meinem Leben. Ich bin echt glücklich. Was das angeht, bin ich nicht mehr die Ratte im Labyrinth." Es beruhigt dann doch, dass auch diese Platte wohl wieder nur eine neue Verwandlungsstufe von ST. VINCENT darstellt. Diese Musikerin bleibt unvorhersehbar. Gut so.


FAZIT: Mit ihrem neuen Artpop-Album wolle sie "die Leute einfach richtig krass fertigmachen", sagt Annie Clark über "All Born Screaming", ihre Tour de Force durch eine finstere Klangwelt. Mit dem smarten Vorgänger “Daddy's Home", der ihr ordentliche Charts-Erfolge bescherte, hat dieses Werk ("meine am wenigsten lustige Platte") nicht mehr allzu viel gemeinsam. Abgesehen natürlich von dieser tollen Stimme, den fabelhaften Gitarren-Sounds - und all der generellen Klugheit dahinter. Nein, langweilig wird's mit ST. VINCENT wirklich nie.

Werner Herpell (Info) (Review 2039x gelesen, veröffentlicht am )

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Wertung: 13 von 15 Punkten [?]
13 Punkte
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Tracklist:
  • Hell Is Near
  • Reckless
  • Broken Man
  • Flea
  • Big Time Nothing
  • Violent Times
  • The Power's Out
  • Sweetest Fruit
  • So Many Planets
  • All Born Screaming

Besetzung:

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