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Tiles: Pretending 2 Run (Review)
Artist: | Tiles |
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Album: | Pretending 2 Run |
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Medium: | CD | |
Stil: | Progressive Rock für den Prog-Olymp |
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Label: | Laser’s Edge / Alive | |
Spieldauer: | 95:31 | |
Erschienen: | 15.04.2016 | |
Website: | [Link] |
Schon lange nichts mehr gehört von TILES.
Aber wirklich vermisst hat man deswegen auch nichts.
Wie sollte man schließlich ahnen können, dass sich das amerikanische Prog-Quartett, das seine größte Aufmerksamkeit wohl dadurch erhielt, dass sie als DREAM THEATER-Support antreten durften, anno 2016 ein Album raushauen, welches nicht nur ihr mit Abstand bestes, sondern auch noch ein deutlich besseres als der aktuelle DREAM THEATER-Output ist.
Wahrscheinlich muss man sich den Panzer einer Schildkröte zulegen und sein eigenes Ding durchziehen, anstatt wie ein Kleinkind unschuldig schreiend allem hinterherzujagen. Ein Grundsatz, der auch im Musik-Business gilt, selbst wenn er nicht unbedingt große materielle, dafür aber hohe künstlerische Anerkennung verspricht. TILES jedenfalls sind mit „Pretending 2 Run“ - sowie dem nur als glücklich einzuschätzenden Wechsel von InsideOut zu Laser‘s Edge - für einen Neustart bereit und es bleibt zu hoffen, dass dieser auch die Anerkennung findet, welche er nach solch einem Doppel-Album verdient hat.
Bereits bei der Cover- bzw. Booklet-Gestaltung fallen sehr deutliche Parallelen zum besten ARENA-Album auf, das gerade volljährig geworden ist: „The Visitor“ aus dem Jahr 1998. Es kann wirklich kein Zufall sein, dass plötzlich dieser Typ mit Hut auf seinem Hochrad wieder mehrfach durch das Booklet fährt. Und nach ein paar Recherchen ist auch klar, dass sich HUGH SYME nicht nur für das herrliche Booklet zu „The Visitor“ verantwortlich zeichnete, sondern auch für dieses 28 Seiten umfassende Booklet im dreifaltigen Digi-Pack. Aber wir haben noch einen weiteren Begleiter an Bord: EXUPÉRYs kleinen Prinzen, dessen Weisheiten auf‘s gesamte Booklet verteilt mehrfach zitiert werden. Oder um ganz genau zu sein: jedes, der insgesamt sieben Instrumentals dieses Doppelalbums erhielt im Booklet ein Zitat aus Exupérys Meisterwerk und bildet eine Art „poetische Brücke“ zu den konkreten Texten des Albums, die ein ganz klares Konzept verfolgen, in dem es um einen desillusionierten Menschen geht, der durch einen Verrat dem Untergang geweiht ist, weil er dadurch seine Freiheit verlor. Darum legte er sich, ähnlich wie eine Schildkröte, einen Panzer zu, zu dem keiner mehr durchzudringen vermag. Und wer genau hinschaut, wird neben der offensichtlichen Schildkröte und dem Hochrad-Fahrer sogar den kleinen Prinzen auf einer Seite des Booklets entdecken können. Auch taucht wohl aus diesem Grunde in der Musik dieses Konzept-Albums immer wieder eine Kinderstimme als Erzähler auf.
Selbstverständlich spielen auch auf „Pretending 2 Run“ wieder härtere und metallische Momente sowie eine gewisse RUSH-Affinität eine wichtige Rolle, aber beides wird zugleich nicht übertrieben in die Länge gezogen, sondern integriert sich in das außerordentlich komplexe Musik-Konzept beider CDs, die ihre besonderen Stärken im progressiven Rock-Bereich entfalten, welcher sich auch der Elektronik, der Weltmusik, dem Jazz, der Klassik und sogar dem Pop im Sinne der MOODY BLUES öffnet. Und als wäre diese musikalische Sinneswandlung nicht schon ausreichend genug, holen sich TILES bei „Pretending 2 Run“, für das sie sich immerhin acht Jahre seit ihrer letzten Studioveröffentlichung Zeit ließen, auch noch jede Menge namhafter Musiker in ihren Schildkröten-Panzer. Musiker, die von ihrer unterschiedlichen musikalischen Ausrichtung her auf den ersten Blick eigentlich gar nicht richtig zusammenpassen dürften, sich aber trotzdem ausgezeichnet ergänzen. Ganz oben steht dabei der DISCIPLINE-Sänger MATTHEW PARMENTER, der große Anteile am gesamten Album hat. Aber es tauchen auch IAN ANDERSON von JETHRO TULL, MIKE PORTNOY von DREAM THEATER, MIKE STERN von MILES DAVIS, ADAM HOLZMAN von der STEVEN WILSON BAND, COLIN EDWIN von PORCUPINE TREE, ein klassischer Chor, ein Streicher-Ensemble und vieles, vieles mehr auf!
Auch hinterlassen diese Musiker deutliche Fußspuren auf „Pretending 2 Run“ und erscheinen nicht nur als ein Namen-Bonus, um das Album einer unbekannteren Band mit großen Namen zu schmücken, welche aber im Grunde keinen sonderlichen Einfluss haben.
Allein „Midwinter“, ein sehr finster ausgerichteter Song, auf dem IAN ANDERSON mitwirkt, hat deutliches Tull-Flair zu Zeiten von „Crest Of A Knave“.
„Weightless“ etabliert TILES durch den Saxofonisten KEITH KAMINSKI sogar im Bereich des Jazz, während Chöre und Streicher tatsächlich pure Klassik-Elemente in das Album einfließen lassen.
„Stonewall“ spielt mit mittelalterlich anmutender Mystik im ENID-Stil, samt Tambura, einem mittelalterlichen Zupfinstrument aus Mazedonien, Streichern und Oboe, die immer wieder von metallischen Gewittern oder an MOODY BLUES erinnernden Gesang-Sätzen und Melodien konterkariert werden.
„Taken By Surprise“ ist ein schlichtweg ergreifender Elfminüter und wahres Klang-Feuerwerk sowie epische Suite zugleich, in der sich E-Gitarren sowie Moog Synthesizer gegenseitig den Rang ablaufen und vertrackte Schlagzeug-Rhythmen dafür sorgen, dass hier große Musikkunst in all ihrer Komplexität ausgelebt wird.
Das knapp dreiminütige „Refugium“ setzt der ersten CD dann gleich noch die klassische Krone auf. Ein großer Chor darf völlig auf sich gestellt dieses Prog-Rock-Album tatsächlich mit einer echten Chor-Kantate veredeln. Und gerade weil „Pretending 2 Run“ stilistisch so vielfältig gestrickt ist, wirkt dieses Refugium nicht etwa wie ein Fremdkörper auf einer progmetallischen CD, sondern wie die gelungene Antithese, welche beweist, dass beide Musik-Spielarten sich liebevoll ergänzen können.
Auf „Midwinter“, dem ersten Song der zweiten CD, greift dann sogar IAN ANDERSON zur Flöte, nachdem zuvor in „Small Fire Burning“ nicht nur eine Spieluhr, sondern auch die Stimme von MATTHEW PARMENTER erklang und durch diese Kombination sofort Erinnerungen an einen der emotionalsten Songs von Parmenters Band DISCIPLINE geweckt werden: „The Nursery Year“!
Bei „Weightless“, dem mit gut 9 Minuten zweiten Long-Song, singt dann nicht nur Parmenter erneut, sondern das ganze Stück wirkt wie für ein DISCIPLINE-Studio-Album geschrieben, auf das die Fans der Band ja nunmehr seit gut fünf Jahren erfolglos warten, bis dann darin auch die großen Minuten des Jazz-Saxofonisten anbrechen. Ganz Ähnliches gilt auch für das folgende „Friend Of Foe“, ebenfalls von Parmenter gesungen, dafür ohne Saxofon, stattdessen mit akustischen Gitarren und Mandoline, aber auch fettem Mellotron sowie seltsam an RADIOHEADs „Kid A“ erinnernden Hintergrundgeang über sechs lange Minuten aufregend eingespielt.
Die Ballade „Battle Weary“ wartet dann mit einer Trompete und Bläsern auf, die fehlten tatsächlich noch in dem bunten Instrumenten-Blumenstrauß des TILES-Prog-Meisterwerks.
„Other Arrangements“ ist ein düsteres, elektronisch-psychedelisches Stück, das angst und bange verbreitet und wie selbstverständlich von ADAM HOLZMANs Moog-Synthesizer lebt und an NIEMENs „Katharsis“ erinnert, um dem vorhergehenden klassischen „Meditatio“, ein weiteres Chor-Werk, die Schönheit zweier völlig gegensätzlicher Musik-Stile zu verdeutlichen.
Mit einer akustischen, wiederum etwas mittelalterlich anmutenden, hymnischen Ballade geht das großartige Doppel-Album leider schon nach insgesamt 95 Minuten zu Ende, das man, wenn überhaupt, vielleicht den allerbesten Prog-Acts der Gegenwart zugetraut hätte, aber doch nicht den längst in Vergessenheit geratenen TILES!
FAZIT: „Pretending 2 Run“ ist TILES Opus Magnum geworden, das im Grunde die progressive Rock-Szene gehörig durcheinanderwirbeln müsste. Ein kleines Meisterwerk mit großer Beteiligung. Und in Abwandlung des „Kleinen Prinzen“ bliebe zu sagen: „Man hört nur mit den Ohren gut, wenn der Klang direkt das Herz erreicht!“
Genau das ist TILES gelungen!
- 1-3 Punkte: Grottenschlecht - Finger weg
- 4-6 Punkte: Streckenweise anhörbar, Kaufempfehlung nur für eingefleischte Fans
- 7-9 Punkte: Einige Lichtblicke, eher überdurchschnittlich, das gewisse Etwas fehlt
- 10-12 Punkte: Wirklich gutes Album, es gibt keine großen Kritikpunkte
- 13-14 Punkte: Einmalig gutes Album mit Zeug zum Klassiker, ragt deutlich aus der Masse
- 15 Punkte: Absolutes Meisterwerk - so was gibt´s höchstens einmal im Jahr
- CD 1 (45:00):
- Pretending To Run
- Shelter In Place
- Stonewall
- Voir Dire
- Drops Of Rain
- Taken By Surprise
- Refugium
- Small Fire Burning
- CD 2 (50:31):
- Midwinter
- Weightless
- Friend Of Foe
- Battle Weary
- Meditatio
- Other Arrangements
- The Disappearing Floor
- Fait Accompli
- Pretending To Run - Reprise 1
- Uneasy Truce
- Pretending To Run - Reprise 2
- The View From Here
- Backsliding
- Bass - Jeff Whittle, Kevin Chown
- Gesang - Paul Rarick, Matthew Parmenter
- Gitarre - Chris Herin, Kim Mitchell, Mike Stern
- Keys - Chris Herin, Jeff Whittle, Matt Cross, Adam Holzman, Colin, Edwin, Mark Mikel
- Schlagzeug - Mark Evans, Mike Portnoy, Max Portnoy
- Sonstige - France Espitalier (Sprechpassagen), Ian Anderson (Flöte), Mark Mikel, Ryan Arini (Backgrounds), Tim Michling (Oboe), Joe Deninzon (Violine), Streicher, Bläser, Chöre
- Fly Paper (2008)
- Off The Floor (2013)
- Off The Floor Vol. 2 (2014)
- Pretending 2 Run (2016) - 14/15 Punkten
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