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O. USCHMANN: Mit Bitte um Verbreitung - aus dem Alltag eines Musikjournalisten 2
Wir brauchen einfach mehr Zeit…
Die zornigen, ängstlichen, panischen, abgehackteren Takte, die „To Dissappear“ nach dem Refrain auffährt – sie sind kein Zufall. Das beeindruckende Lied vom neuen Therapy?-Album „Hard Cold Fire“ dreht sich um die Erfahrung eingeschüchterter, schwer traumatisierter Menschen, die sich vor allem in der Kindheit stets Gewaltausbrüchen ausgesetzt sahen. Den Kampf um die eigene Würde in „Two Wounded Animals“ wiederum, der sowohl Flüchtlinge als auch psychisch Erkrankte betreffe, drückt das nordirisch-britische Trio durch eine Gitarre aus, die „wie ein sterbendes Tier“ klingen soll. Die Erfahrungen selber stammen von Freunden des Sängers, die in der Flüchtlingshilfe sowie in Kliniken arbeiten.
Ich spreche mit Andy Cairns an einem warmen Frühsommerabend, wir beide sitzen in Zoom-Fenstern, während draußen die Knospen sprießen. Was er mir über die künstlerischen Kniffe erzählt, die Michael McKeegan, Neil Cooper und er auf der neuen Platte angewendet haben, bereitet mir ein schlechtes Gewissen. Gegen Ende des Gespräches platzt es daher aus mir heraus, ehrlich, wie ich mit vielen Musikern bin, bei denen die Chemie stimmt. „Wir brauchen einfach mehr Zeit“, sage ich, „dieser ganze Journalismus wird der Sache nicht gerecht. Ständig müssen Alben nah an der Veröffentlichung rezensiert und vorgestellt werden. Das müsste ganz anders laufen, um der Kunst ebenfalls ihre verdiente Würde zu geben. Mindestens zwei, besser drei Monate nach Erhalt einer Platte sollten wir diese frühestens besprechen. Wenn wir uns wirklich auf sie einlassen konnten. So!“
Andy schmunzelt. „Das wäre mal eine Idee.“ Dennoch weiß er, wie wichtig es für das Marketing ist, wenn’s von Ende April bis Mitte Juni Presseberichte hagelt bei einer Platte, die am 5. Mai erscheint. Da wir Journalisten aber in einem Monatszyklus immer ein halbes bis zwei Dutzend Werke wahrnehmen müssen, über die wir schreiben, ist es vollkommen unmöglich, all die Tiefe zu begreifen, die in ihnen steckt oder stecken kann. Es sei denn, man führt dazu ein Interview. Unseres dreht sich auf den Nebenwegen um diese Augenblicke, wo Musik noch echte Magie entwickeln kann, insofern sie Substanz hat. Augenblicke abseits von Musikwahrnehmung „nahe der VÖ“. Junge Menschen drehen heute Reaction-Videos, in denen sie das erste Mal im Leben fünfzig Jahre alte Songs von Genesis oder Pink Floyd hören und brechen zu ihrer eigenen Überraschung in Tränen aus.
Die Interviews im Alltag sind freilich auch begrenzt. Rund 25 Minuten habe ich mit Andy seitens der PR-Agentur. Es werden rund zehn mehr, weil ich ein wertschätzender und neugieriger Mensch bin und die Künstler daher gerne mit mir sprechen. Dennoch, bei mehr Zeit hätten wir Lied für Lied über Einflüsse sprechen können, die womöglich auch unbewusst auftauchen, anders als die Bezüge zu Thin Lizzy oder zu Schriftstellern und Philosophen wie Erich Fromm, Samuel Beckett oder David Foster Wallace, die Andy ohnehin schon raushaut. Die erste Single „Joy“, soeben hier im Text verlinkt – bin das nur ich oder handelt es sich dabei um eine Variante des Riffs von einem der wenigen, großen, einst sogar auf WDR2 laufenden Hits von Bad Religion, „Infected?“ Und fällt Andy bei Songs wie dem eingangs erwähnten „To Dissappear“ nicht sehr in den Tonfall von Billy Corgan? Auf der Stimme jedenfalls, so verrät er mir, liegen dieses Mal Effekte, die sonst nur in Dance und Techno Anwendung finden und zwar zu dem Zweck, sie wärmer und präsenter zu machen. Die Tanzleute nutzten das, um den Menschen im Club im wahrsten Sinne des Wortes direkt im Ohr zu liegen.
Was unseren Alltag als Musikjournalisten abseits der Freiheiten hier auf diesem Blog ebenfalls bestimmt ist, dass die Rezension zu einem Album oft noch eine Ausgabe früher erscheint als das Interview. Also habe ich „Hard Cold Fire“ für Rock Hard sehr schnell vom Tisch malocht und mich erst danach, in Vorbereitung des Interviews, noch tiefer damit beschäftigt. Im dritten Schritt erschloss mir der Talk mit dem Schöpfer die ganze Tiefe des Albums. Im Ergebnis würde somit schon jetzt, einen Monat später, die Rezension etwas höher bepunktet ausfallen. Weswegen ich Nachwuchskräften, die sich nicht ganz sicher sind, meistens rate: Gebt lieber einen halben Punkt mehr, denn die meisten Platten werden, wenn man mehr Zeit findet, besser, da jede weitere Runde eine Schicht mehr freilegt, die man in der Hektik des Berufsalltags übersehen hat.