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Interview mit ORBITER (01.06.2020)

ORBITER

Mit ihrem Vinyl-Einstand ließ die finnische Band ORBITER unlängst aufhorchen, denn "The Deluge" verbindet Stoner Rock, Doom Metal und psychedelische Vibes auf so eigenwillige wie überraschend souveräne Weise. Die 4-Song-EP ist zudem die erste Veröffentlichung, auf welcher die aus Deutschland stammende Sängerin Carolin Koss der groovigen Melange noch mehr Tiefgang verleiht. Zur Beantwortung unserer Fragen nahm sie sich viel Zeit, um nicht nur über die aufstrebende Band aus der finnischen Hauptstadt zu berichten, sondern auch andere künstlerische und soziale Facetten zu beleuchten. Die Titel stiftende Sintflut ("The Deluge") nimmt dieser Tage verschiedene bedrohliche Formen an, und eine davon zwang in den vergangenen Monaten nicht nur ORBITER zur Pause im Proberaum und inspirierte zu neuen Wegen.

Hallo Carolin, danke, dass Du Dir Zeit für das Interview nimmst, wobei Du ja wie einige von uns aktuell viel Zeit daheim verbringst. Wie ist die Stimmung in Helsinki angesichts der Corona-Krise, und färbt aktuell etwas davon ab auf Eure Musik - ich habe gelesen, anstelle der geplatzten Tour widmet Ihr Euch nun neuen Kompositionen?

Die Stimmung hier in Helsinki ist, in respektvollem Abstand zueinander, ziemlich entspannt, da auf Grund von Corona die Fallzahlen momentan nur bei 50 Neuinfektionen in ganz Finnland liegen und es seit einigen Tagen auch kaum Tote zu verzeichnen gibt. Am Anfange der Krise war es etwas strenger und Helsinki wurde für ein paar Wochen vom Rest Finnlands abgeriegelt, um die Verbreitung einzudämmen. Aber generell hatten wir keinerlei Ausgangssperre und durften uns draußen frei im kleinen Kreise bewegen. Ich glaube, was den Finnen in dieser Situation einen Vorteil verschafft, ist, dass sie von vornherein schon im Social Distancing erprobt und von Natur aus eher etwas zurückhaltender sind. Ich hätte nie gedacht, dass das irgendwann einmal von Nutzen sein könnte, da ich mich mit dieser Seite der Finnen oftmals etwas schwer getan habe. Nun bin ich fast stolz darauf, dass uns das in dieser Hinsicht zugute kommt, und wir dadurch nun ein Stück Freiheit hier genießen dürfen.
Uns als Band hat die Corona-Krise insofern beeinflusst, dass auf einen Schlag all unsere Gigs abgesagt oder verschoben wurden, da alle Bars und Clubs dicht gemacht haben. Ab dem 1. Juni 2020 werden diese bei uns in Finnland aber wieder öffnen und eine Ansammlung von 50 Leuten ist ab dann auch wieder erlaubt. Daher kann es sein, dass es auch bald wieder losgeht mit Gigs. Auch hatten wir bereits schon eine Anfrage, ob wir in 2 Wochen spielen können. Das war uns aber dann doch etwas zu früh und überstürzt. Selbst innerhalb der Band haben wir erst einmal physisch Abstand während der kritischen Corona-Phase genommen und daher seit Monaten nicht mehr proben können. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht es aber nun für uns am Wochenende endlich wieder in den Proberaum. Dennoch haben wir bereits draußen inmitten der frühlingshaft aufblühenden Natur mit Sicherheitsabstand musiziert und Ideen für unser neues Album entwickelt. Im Grünen Musik zu machen hat für mich etwas Nostalgisches und erinnert mich an meine Jugend-Zeit, wo ich mich mit der Gitarre in die Felder zurückgezogen und selbst meine ersten Lieder komponiert habe.

Um mir in meiner zweiwöchigen Präventivquarantäne die Decke nicht auf den Kopf fallen zu lassen, habe ich beim Arbeiten im Home Office nebenher allerlei Musik gehört und auch ORBITER entdeckt, weil Dein Vater ganz stolz die Werbetrommel für Euch rührte. In der zweiten Woche ohne Ausgang setzte allerdings eine gewisse Nervosität bei mir ein, die mir das Schreiben bestimmter Texte erschwerte, und ich sehnte mich vor allem nach Bewegung im Grünen. Wie ergeht es Dir in dieser Hinsicht und welche Musik hilft Dir, um im "flow" kreativ sein zu können?

Mir geht es genauso und mich treibt es häufig nach draußen, wo ich frische Luft tanke, einen klaren Kopf bekomme und Inspiration sammle. Zu Corona-Zeiten ist dies für mich sogar noch bedeutungsvoller geworden und ich gehe mindestens eine Stunde jeden Tag raus in den Wald oder ans Meer, wobei ich mich glücklich schätzen kann, dass ich das hier genau vor meiner Nase habe. Jeden Tag auf die Wellen schauen zu können, hat schon eine sehr beruhigende Wirkung und trägt definitiv zu einem kreativen "flow" bei. Auch hat mich schon immer das Licht hier oben im Norden speziell im Sommer inspiriert und momentan sind die lauen Abende in traumhaft rötlich goldenes Licht getunkt, das die ganze Nacht durch die paar dunklen Wolkenstreifen hindurchschimmert.
Natürlich begleitet mich auf meinen langen Spaziergängen auch oft die Musik. Oftmals höre ich aufgenommene Songs oder halbfertige Demos von ORBITER oder anderen Band-Projekten, in denen ich auch als Sängerin involviert bin, an und reflektiere, analysiere und fühle mich in diese hinein, um sie im Kopf weiterzuentwickeln. Dann höre ich natürlich auch 'ne Menge Musik zwischen Folk, Jazz, Metal, Psychedelic, Electro, Indie & Alternative Rock. Mein persönlicher Soundtrack in der Corona-Zeit und ein Album, was mich gerade irgendwie sehr anspricht, ist "Chants From Another Place" von dem schwedischen Musiker Jonathan Hultén, das eine gewisse melancholische Ruhe ausstrahlt und eine ätherische Sphäre in dieser undurchsichtigen Zeit schafft. Und dann hab ich Phasen, wo ich entweder meine Ohren mit lauten, krachigen Tönen beschallen muss oder einfach nur der Stille und dem Vogel-Gezwitscher im Wald oder dem Rauschen der Wellen zuhören möchte.

Da ich pflichtschuldig nach Kritikwürdigem suche, um jegliche Verdachtsmomente zu entkräften, dass hier zu viel "Vitamin B" im Spiel sein könnte und ORBITER auf Musikreviews.de bevorzugt behandelt würden, stelle ich fest, dass mich Eure Songs gleich beim ersten Hören u.a. an The Wounded Kings, Glowsun und Lonely Kamel erinnerten - was wiederum Faves von mir sind, und mir "The Deluge" einfach enorm gut gefällt. Das beruht nicht zuletzt auf Deinem Gesang. Seitdem Sharie Neyland und The Wounded Kings getrennte Wege gingen, hat mir solch starker Gesang einer Frau im Doom Metal gefehlt, und ich freue mich, dass die Finnen Dich angeheuert haben. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?

Wenn du mit so einem musikbegeisterten Papa wie ich aufwächst, bekommst du die Musik quasi schon im Mutterleib zu spüren. Ich hatte das große Glück von Anfang von einer Vielzahl an abwechslungsreicher und progressiver Musik umgeben zu sein. Ich bin förmlich mit einem leichten Dröhnen von Musik, die spät Nachts noch aus dem Untergeschoss kam, eingeschlafen und wenn ich meinen Vati heutzutage besuche, wache ich jeden Morgen zu wahnsinnig spannender Musik auf, da er ja an Reviews für Musikreviews.de schreibt. Dann hat mich mein Daddy auch auf die verschiedensten Konzert mitgenommen und ich weiß noch, wie ich als kleines Kind auf seinen Schultern saß und voller Begeisterung Rammsteins brachialen Klänge, getunkt in eine unglaubliche Feuer und Licht-Show, in mich aufsaugte, oder wie ich als Teenager völlig baff in den Nebel- und Rauchschwaden vor der Bühne zu God Speed You Black Emperor fast in eine Art Trance verfallen bin, oder wie mein Körper beim Sigur Rós Konzert fast durchgängig von Gänsehaut übersät war.
All diese geballten Höreindrücke und Erlebnisse haben mich natürlich unwahrscheinlich geprägt und Musik hat mich seit jeher auch immer im Leben begleitet. Ich habe bereits sehr früh angefangen, zu singen und dann auch begonnen, einige Instrumente zu spielen und Lieder zu komponieren. Zudem habe ich auch in einigen Bands gesungen. Als ich dann aber 2008 nach Finnland gezogen bin, habe ich mich aufgrund meines Studiums und meiner Berufswahl mehr der Kunst und dem Filmemachen gewidmet, was mir leider weniger Zeit zum Musikmachen ließ. Nach einem persönlichen Schlüsselmoment habe ich dann aber festgestellt, dass die Musik ein so essentieller Bestandteil meines Daseins ist, dass ich das Musizieren unbedingt wieder in mein Leben integrieren musste. Dann habe ich mich nach musikalischen Kollaborationen umgeschaut und so ist mir ORBITER über den Weg gelaufen. Die Jungs haben mich gleich angeschrieben, nachdem ich eine Annonce mit einem Beispiel-Song meiner anderen Band Limbo Jets, die zu dieser Zeit aber pausierte, gepostet habe. Ich war gleich ziemlich angetan als ich ORBITERs drei existierende Singles zum ersten Mal hörte, auch wenn ich mir im ersten Moment noch nicht so sicher war, ob ich gesanglich gegen die Härte der Musik und die Wucht der Gitarren ankommen könnte. Aber als ich dann versucht habe, bei den Liedern mitzusingen, merkte ich, dass das doch irgendwie ziemlich spannend mit uns werden könnte. So spannend, dass ich dann doch ziemlich aufgeregt war, als ich im April 2019 bei Orbiter vorgesungen habe und wir uns glücklicherweise auf Anhieb musikalisch und auch menschlich super verstanden haben. Die Jungs teilten mir mit, dass sie mich nach einer gemeinsamen Auswertung über das Vorsingen spätestens den nächsten Tag kontaktieren würden. Und dann bin ich vom Proberaum 5 Minuten zum Bus gelaufen und bekam auf dem Weg dahin direkt eine Nachricht, ob ich denn nicht der Band beitreten möchte. Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut und dann auch gleich im Bus meinen Vati mit der freudigen Nachricht beglückt.

Stimmst Du zu, dass Ihr es Doom- und Stoner-Fans einerseits nicht schwer macht, Gefallen an Euren Songs zu finden, andererseits nicht so ganz einwandfrei zu verschubladisieren seid?

Das kann schon sein, dass wir einerseits die Doom- und Stoner-Fans ganz ordentlich beschallen, und es stimmt auch, dass wir andererseits nicht so ganz zu "verschubladisieren" sind. Wenn wir zu fünft eng gedrängt im Auto manchmal stundenlang zu unseren Auftritten fahren und rotierend unsere Lieblingssongs abspielen, dann fällt mir schon auf, dass jeder aus der Band sehr unterschiedliche Musikvorlieben hat. Da ist echt alles von Jazz, Funk, Folk, Wave, Electro, Pop, Psychedlic, Progressive, Rock, Doom und Metal dabei. Das färbt, glaube ich, auch auf unsere eigene Musik ab. Jeder kommt rein musikalisch so ziemlich aus den unterschiedlichsten und wildesten Ecken. Daher glaube ich nicht, dass wir eine typische, klischeebehaftete, heterogene Stoner-Doom Band sind, sondern so einige Überraschungen parat halten. Hinzu kommt auch, dass unsere EP "The Deluge" ein Sammelwerk von unterschiedlichen Orbiter-Epochen ist. "Astral Racer" und "Orchids" existierten schon, bevor ich bei der Band eingestiegen bin und "Bone To Earth" sowie "In Echoes" haben wir zusammen ausgefeilt und geformt. Das neue Material für unser folgendes Album wird dementsprechend wohl eher in diese Richtung gehen oder auch ganz unerwartet neue Wege einschlagen. Davon lassen wir uns selber noch überraschen, auch wenn es schon einen groben Fahrplan und 'ne Menge spannender Ideen gibt.

ORBITER machen auf mich mit "The Deluge" einen überraschend professionellen Eindruck, der - wohlgemerkt - in keinem Gegensatz dazu steht, dass Eure Musik sofort ins Blut geht. Doch die Aufnahme wie die Produktion und auch das Cover Artwork machen allesamt einen "runden" Eindruck, und als ob Ihr und die übrigen Verantwortlichen sehr fokussiert zu Werke gegangen wäret. Das ist nicht gerade typisch für eine erste "richtige" Veröffentlichung. Wie ernst geht Ihr an ORBITER ran und verfolgt Ihr jetzt schon "höhere Ziele" als nur Spaß an der Freude im tiefsten Underground?

Ich war von vorneherein beeindruckt, wie fokussiert und entschlossen die Jungs nicht nur ans Musikmachen, sondern auch an die Sache rund um die Organisation und Vermarktung rangehen. Das entpuppt sich aus meiner Erfahrung mit anderen Bands manchmal schleppend und im schlimmsten Fall bleibt man mit seiner Musik mitunter zwischen den Seilen hängen, da dann doch der Antrieb und die Motivation gerade auch für eher organisatorische Dinge jenseits der Musik fehlen. Das ist aber leider einer der größten Teile des Geschäfts, den ich bereits auch von meiner Tätigkeit als freischaffende Künstlerin und Filmemacherin nur zu gut kenne. Vielleicht hilft es auch zusätzlich, dass drei der Jungs Physiker sind, und diesen klaren Kopf eines Wissenschaftlers bewahren und dementsprechend mit Berechnung und System vorgehen. Im Gegenzug bin ich bemüht, ein Auge auf die visuelle und ästhetische Seite Orbiters zu werfen. So sind auch einige meiner künstlerisch versierten Freunde involviert, wenn es um Fotos, Videos und Cover-Artwork geht. Auf diese Weise bringt jeder seine Stärken ein. Auch treffen wir ziemlich demokratische Entscheidungen, insbesondere da wir mit fünf Leuten ja auch immer eine Mehrheit erzielen können und dann gehen wir sehr zielstrebig an die Sache, ohne zu sehr um den heißen Brei herumzureden. Ich glaube, niemand von uns wäre abgeneigt, auch Erfolg mit dem zu haben, wofür wir brennen, aber wir sind uns auch bewusst, dass das speziell in diesem musikalischen Randbereich mit viel Arbeit und Aufwand verbunden ist, wovor wir uns aber nicht sonderlich scheuen oder gar abschrecken lassen.

Nachdem ich mir auf YouTube die Live-Clips von Eurer Release Party angehört hatte, folgten im Autoplay-Modus die aktuellen Single-Auskopplungen von Paradise Lost und Deep Purple. Könnte es bessere Gesellschaft geben, und wie nimmst Du als junge Sängerin und Kreative solche alten Sä... Gentlemen wahr, die es offenbar nicht lassen können, immer noch zu rocken und zu lärmen? Lässt sich in diesen Musikrichtungen vergleichsweise würdevoll altern und beschäftigt es Dich überhaupt, dass auch ORBITER einem Sound frönen, der bereits vor einem halben Jahrhundert Gestalt annahm?

Es ist natürlich kein Geheimnis, dass wir uns von solchen alten Sä… inspirieren lassen und wie im Wahn auf die Schultern dieser alten Riesen klettern, schwindelig hinunterschauen und merken, wie dünn die Luft da oben ist. Dieser Großmut ist natürlich immer mit einem gewissen Risiko verbunden, aber ich sehe es auch als einen Lernprozess oder wie ein Handwerk, welches man sich von den alten, großen Meistern würdevoll aneignet und dann mit dieser Basis seine eigenen Skulpturen baut. Mir persönlich hat schon immer die Musik der 60er- und 70er-Jahre am meisten imponiert und davon werde ich auch so schnell nicht wegkommen. Daher bin ich sehr froh, dass die Inspirationsquelle für ORBITER aus dieser Zeit stammt und wir unsere Sounds wie damals eher analog gebären und verzerren als digital.

Du bist in vielfältiger Weise als Künstlerin aktiv, hast mehrere Filme gedreht, wobei ich beim Anblick des Trailers von "Copper Mountains" den Eindruck hatte, dass den Film möglichst viele sehen sollten und er sehr ungemütliche Perspektiven aufwirft - wie auch z.B. Deine Installation des "atmenden Baums", der von Plastik umhüllt ist. Schwingen solche Beobachtungen und Themen auch in der Musik von ORBITER mit, und falls ja, spiegelt sich im Bandnamen die Sehnsucht, das alles hinter sich zu lassen?

Beim Schreiben der Lyrics zu "Bone To Earth" war ich auf jeden Fall gleichermaßen inspiriert wie von den Themen meiner Filme und Kunstwerke, die sich oft mit Umweltzerstörung oder dystopischen Zukunfts-Szenarien auseinandersetzen. Speziell in der zweiten Strophe "Shaking earth, burning skies, rising tide, wave of downfall" gehe ich auf die offensichtlich Menschen-gemachten Klimakatastrophen ein und "Flooding the paths of human nature, drowning the ruins of humanity" ist wie eine Warnung, dass wir uns durch unser ausbeutendes Verhalten gegenüber der Natur sehr bald selber ausrotten könnten und dennoch stirbt die Hoffnung "Rising wisdom triumphes over greedy hearts" zuletzt. Zudem lasse ich mich beim Texten auch von Geschehnissen zwischen Welt und Weltall, meinen Träumen, mystischen Begebenheiten, persönlichen Erlebnissen und Herausforderungen inspirieren. Da ich sehr visuell veranlagt bin, können meine Texte oft sehr bildhaft, abstrakt und surreal wirken, was im Grunde genommen in die Stratosphäre ORBITERs passen dürfte. Der Bandnahme existierte bereits schon, bevor ich der Band beitrat, daher hatte ich da nicht meine Finger mit im Spiel. Aber so, wie ich es verstanden habe, suchten die Jungs 2015 kurz vor der Veröffentlichung ihrer ersten Single "Oneironaut" nach einem geeigneten Bandnamen und fanden ihn dann auch beim gemeinsamen Saunieren zwischen Wasserdampf und ein paar Dosen Bier.

Ich habe kürzlich gelesen, wie die Bildungsbürgermeisterin Helsinkis, Pia Pakarinen, beschrieb, dass es in der Stadt zwar einige Probleme, jedoch keine Ghetto-Bildung gäbe, und dass Familien mit höherem und niedrigerem Einkommen in denselben Vierteln lebten, wodurch Kinder aus benachteiligten Familien vergleichsweise gute Chancen hätten, den Anschluss z.B. in der Schule nicht von vornherein zu verlieren. Wie nimmst Du das wahr und spiegelt sich etwas von diesem Ansatz auch in Kunst und Kultur vor Ort?

In Helsinki gibt es über die ganze Stadt verteilt Sozialwohnungen, deren Miete wohl nur 70% des Marktpreises ausmachen. Dieses System hilft durchaus, einer Spaltung innerhalb der Gesellschaft vorzubeugen. Auch im Schulsystem gilt das Prinzip der Chancengleichheit. Da werden auch benachteiligte oder lernschwache Schüler mit ins gleiche Boot gesetzt und meist zusätzlich von einem Sozialarbeiter unterstützt. Egal also, woher du kommst oder wie gut du bist, das Schulsystem hier behandelt jeden gleich und holt auch jeden mit ab. Zudem gehen alle bis zur 9. Klasse in die gleiche Gesamtschule und müssen sich dann erst ab der 10. Klasse entscheiden ob sie eher auf eine Berufsschule oder ein Gymnasium gehen wollen. Im Vergleich zu unserem deutschen Bildungssystem, fände ich es auch viel angemessener, wenn man eine dermaßen zukunftsträchtige Entscheidung nicht schon nach der 4. Klasse treffen muss und dann auch noch die Schüler in polarisierende Gruppen aufteilt bzw. stufenförmigen Schulsystemen zuordnet. Hier in Finnland begegnet man sich auf gleicher Augenhöhe und nur weil jemand einen praktischeren Weg einschlägt oder lieber in Zukunft an der Uni studieren möchte, ist dieser nicht dümmer oder schlauer, sondern folgt seinem natürlichen Potential, das im finnischen Bildungssystem bei jedem gefördert wird.
Wenn man wie ich hier im Kunst und Kulturbereich tätig ist, hat man den Vorteil, dass man sich für verschiedene Kunst-Stipendien bewerben kann, um entweder Projekte zu realisieren oder um seinen Lebensunterhalt während seiner vollzeitigen künstlerischen Tätigkeit zu sichern. Auch hier gilt, dass jeder, der in Finnland eine permanente Adresse besitzt, sich dafür bewerben kann.
Finnland ist also, was Gleichberechtigung angeht, vielen anderen Staaten weit voraus. Auch die Mehrheit unserer Minister ist weiblich und knapp über 30 Jahre alt.
Ich habe das Gefühl, dass Finnland in vielerlei Hinsicht recht progressiv ist und sehr pragmatisch handelt. Wenn etwas Altes nicht mehr von Nutzen ist, wird es meist zügig erneuert. Und selbst die Bürger haben, finde ich, ziemlich viel Mitspracherecht und können durchaus ihr Finnland im Wandel der Zeit mitgestalten.

Danke Dir für diese Einblicke, Carolin, und für Deine künstlerischen Impulse, uns Menschen mit den Ergebnissen unseres Handelns zu konfrontieren - lass Dich nicht unterkriegen. Ich freue mich darauf, ORBITER mal live zu erleben, und wünsche Dir und Euch bis dahin eine kreative und hoffentlich auch frohgemute Zeit!

Vielen lieben Dank für die aufrichtigen und tiefsinnigen Fragen! Wir bleiben dran und machen Musik, so lange es geht, auch wenn die Welt vom Virus befallen ist, in den Wellen untergeht oder anderweitig durchdreht.

Thor Joakimsson (Info)
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