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Interview mit TOR BAND (Belarus) (22.02.2021)
Protestlieder in Weißrussland
Weißrussland, auch Belarus genannt, hat 9 Millionen Einwohner und liegt zwischen Polen, Litauen, Lettland, der Ukraine und Russland. Seit 1994 wird die ehemalige Sowjetrepublik von Diktator Aleksandr Lukaschenko mit harter Hand regiert. Am 9. August 2020, so die offizielle Version, wurde er zum sechsten Mal in Folge mit großer Mehrheit zum Präsidenten wiedergewählt. Swetlana Tichanowskaja, die einzige zugelassene Kandidatin der demokratischen Opposition, war gezwungen, nach Litauen zu fliehen. Seit Monaten gingen Hunderttausende Weißrussen auf die Straße und forderten Neuwahlen und ein Ende der Polizeigewalt. Seit 27 Jahren bilden Leute aus der Kulturszene die Avantgarde der Protestbewegung: Künstler, Theaterleute und... Musiker.
Ich sprach mit Dmitri, 38, Sänger und Gitarrist der TOR BAND, deren Lieder "Zjive Belarus" (Es lebe Belarus - Protestparole) und "My ne narodets" (Wir sind kein Pöbel - nach einem Zitat Lukaschenkos über die Bevölkerung) die Demonstrationen begleiteten und noch immer aus vielen Wohnungen und Autos zu hören sind.
Dmitri, kannst du kurz die Band vorstellen?
Wir kommen aus Rogatschow, das ist eine Kleinstadt mit 35.000 Einwohnern im Osten von Belarus. Wir sind zu dritt. Ich spiele Gitarre und singe. Zhenja ist der Schlagzeuger. Und dann ist da noch unser neuer Bassist, Andrej.
Ihr seid Hobbymusiker, habt keinen Manager und werdet nicht im Radio gespielt. Wie erklärst Du Dir, dass trotzdem jeder in Belarus eure Musik kennt?
Unsere Protestsongs wurden etwa fünf Monate vor Ausbruch der Demonstrationen veröffentlicht. Es gab also eine Zeit, in der man uns entdecken konnte. Die meisten Bands reagierten erst im Nachhinein auf die Proteste… Wenn überhaupt. Viele waren auch zu ängstlich, um überhaupt etwas zu sagen. Unsere Texte sind zugänglich. Wir singen, was das Volk denkt: "Wir sind keine Herde, kein Abschaum, keine Feiglinge, wir sind das lebendige Volk, wir sind Weißrussen." Das sind Worte, die den Leuten sehr nahestehen. Die brauchen keine Erklärung. Es sind keine Metaphern oder andere Spitzfindigkeiten enthalten.
War es schwierig, Leute für die Musikvideos zu finden?
Sehr schwierig. Wir haben die Aufnahmen im April 2020 gemacht, als die Wahlen noch weit weg waren. Einige Freunde und Bekannte lehnten die Teilnahme sofort ab. Andere nahmen erst teil, wollten dann aber später herausgeschnitten werden. Damals gab es noch Proteste, keine Polizeigewalt, keine Folter. Trotzdem hatten einige furchtbare Angst. Diese Angst war tief verwurzelt und schon lange da. Im Video werden nur die Mutigsten gezeigt. (lacht)
Wie ist die Lage in Rogatschew? Gibt es noch Proteste?
Nein, es gibt vor Ort keine Proteste mehr. Natürlich gab es hier in den Sommermonaten auch Demos. Wie im ganzen Land. Mittlerweile wurde aber jeglicher Widerstand gewaltsam unterdrückt. Um ehrlich zu sein, ist die Protestbewegung in Belarus mit den täglichen Protestzügen zum Stillstand gekommen.
Ihr habt einen Song mit dem Titel 'Uchodi' ('Geh' - über den Wunsch, dass Lukaschenko in aller Stille geht und das Volk selbst würdige Nachfolger findet). Die Musik und der Text dieses Liedes sind sehr sanft. Wie die anderen Songs habt ihr das Lied lange vor Beginn der Proteste aufgenommen. Nachdem seit Augustus 2020 schätzungsweise 33 000 Belarussen im Gefängnis waren oder noch sind, ist da noch Platz für so viel Verständnis und Sanftmütigkeit?
Wenn wir unsere Menschlichkeit verlieren, werden wir wie unsere Gegner. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir menschlich bleiben. Ein sehr positiver Effekt der Proteste ist die gegenseitige Unterstützung, die entstanden ist. So etwas haben wir in Belarus noch nie gehabt. Angefangen bei unterschiedlichen Dienstleistungen bis hin zum Teilen von Lebensmitteln. Ohne Gegenleistung. Es ist sehr wichtig, menschlich zu bleiben, aber natürlich sind wir auch wütend. Viele Dinge sind unverständlich. Es ist nicht normal, dass ein Weißrusse den anderen schlägt. Und dass es andere gibt, die sich darüber freuen: 'Sehr gut, dieser Abschaum hat nichts Besseres verdient!' Das ist nicht normal. Aber unsere Menschlichkeit ist etwas sehr Kostbares. Ein großer Unterschied zu den Unterdrückern ist, dass wir auch ohne Alkohol fröhlich sein können. Das können die nicht. Selbst auf höchsterEbene gibt es nur Alkoholexzesse.
Ein anderes Lied heißt 'Anonimochka' ('Anonyme Anzeige' - über jemanden, der anfangs zaghaft eine anonyme Anzeige abgibt und dann langsam Geschmack daran findet). Begleitet von einem schönen Ska-Beat singt ihr über etwas, das ihr direkt selbst erlebt habt?
Ja, das Lied basiert auf der Realität. Unser Schlagzeuger, der im Clip zu sehen ist, arbeitet für das Kulturzentrum der Stadt. Er erzählte uns, es wurde anonym Anzeige erstattet über etwas, das der Direktor des Zentrums gesagt hätte. Der geriet dadurch in Schwierigkeiten. Aber auch unser ehemaliger Bassist hat davon erzählt. Er arbeitet im öffentlichen Dienst und sagte, dass anonyme Anzeigen in staatlichen Strukturen an der Tagesordnung sind. So ist der Song entstanden.
Eure bekanntesten Lieder sind 'Zjive Belarus' und 'My ne narodets'. Es geht darin um ein neues nationales Bewusstsein. Selbst wenn Lukaschenko verschwinden würde, kann man sich ein Belarus ohne den allmächtigen Einfluss Russlands vorstellen?
Nein, wir haben es auch nie anders gekannt. Das fängt schon bei der russischen Sprache an. Ich bin mit dem Russischen aufgewachsen. Weißrussisch ist nur meine zweite Sprache. In Rogatschew kenne ich auch nur einen Einwohner, der ausschließlich Weißrussisch spricht. Die Bindung zu Russland ist sehr stark. 2001 ging ich selber nach Moskau, wo ich zwölf Jahre lang gelebt habe. Dort spielte ich als Gitarrist in einer Band, die zunächst auf Weißrussisch sang. Zu dieser Zeit gab es in der russischen Hauptstadt eine Menge rechtsextremer Skinheads. Wir wurden mehrmals von der Bühne gezerrt. Es war die Zeit des Ska-Punk, mit Bands wie REDISKA und SKALPEL. Einmal lauerte manuns nach einem Konzert auf. Damals mussten wir erkennen, dass wir, um in Russland als Band zu überleben, das Weißrussische weglassen mussten. Später verschwand die Skinhead-Bewegung und vieles war wieder möglich.
Würdest Du gerne nach Moskau zurückkehren?
Nein, es war eine sehr bewusste Entscheidung nach Rogatschew zurückzukehren. Das Leben in einer Metropole wie Moskau ist schon hart. Mit 21 bin ich in die russische Hauptstadt gegangen. Denn für junge Leute ist es absolut notwendig, in einer Großstadt zu leben. Um sich zu entwickeln, einen Beruf zu finden, der in die moderne Zeit passt. Was hätte ich hier werden können, nachdem ich kurz vor den Abschlussprüfungen das Konservatorium verlassen hatte? Leiter des Ensembles für Volksmusik im Kulturzentrum? Zuerst bin ich nach Mogiljow gefahren. Das empfand ich schon als eine riesige Stadt. Und danach also Moskau.
Ich nehme an, Du hast in Moskau nicht von der Musik leben können? Was hast du dort beruflich gemacht?
Zuerst stand ich mit einem Werbeplakat auf dem Arbat (lacht): Wir kaufen Gold... die schönsten und billigsten Tattoos der Stadt... Dort habe ich Straßenmusiker getroffen. Durch sie habe ich meine ersten musikalischen Kontakte geknüpft. Bald fand ich Freunde unter den Moskauern. Wir saßen oft zusammen in der Küche und dann habe ich Gitarre gespielt und etwas auf Weißrussisch gesungen. Sie liebten es, obwohl sie kein Wort davon verstanden. Was die Arbeit betrifft, so haben mir viele Menschen enorm geholfen. Ich lernte mit Photoshop umzugehen und arbeitete als Designer. Das mache ich noch immer. Die Videos von unserer Band erstelle ich selbst. Und ich mache eine Menge Projektarbeit. Ich arbeite momentan an einem russischen Projekt über erfolgreiche Unternehmer.
Wie würdest Du den Stil von TOR BAND bezeichnen?
Wir spielen ehrliche Musik. Als ich am Konservatorium studierte, sagte meine Lehrerin, dass jeder Stil seine eigene Stimmung hat. Deshalb haben wir unterschiedliche Stile. Denn das ist genau das, was die meisten Leute an uns mögen.
Was sind Deine musikalischen Vorbilder?
Wenn ich wirklich ehrlich bin, höre ich nie Musik. Selbst im Auto höre ich kein Radio.
Sag mir jetzt nicht, Du hörst den Staatssender....
(lacht) Nein, ich höre mir überhaupt nichts an. Okay, natürlich kenne ich ein paar Bands. Manchmal, wenn ich irgendwo zu Besuch bin, höre ich neue Musik. Aber wie gesagt, auch unsere eigene Musik höre ich nie, ich bin nicht narzisstisch veranlagt... Ich habe nicht mal einen CD-Player.
Der ideale Nachbar?
Wenn ich nicht gerade probe (lacht). Aber nein, ich lebe außerhalb.
Was denkst Du, wird eure TOR BAND diesen Sommer an einem Rockfestival teilnehmen?
Nein, ein Rockfestival wird es wohl kaum geben. Gestern noch wurden die Mitglieder einer anderen Band bei einem illegalen Konzert verhaftet. Wir haben ein kurzes Lied namens 'Pizdjozj' (Beschiss), es enthält das Todesdatum des Regimes. Schau dir das mal an. (Das Video ist in Belarus wegen Zensur blockiert, Antwort: 2025)
Ergeben die Proteste einen Sinn?
Viele Leute fragen mich, wann wird Lukaschenko endlich gehen? Wie lange wird das alles noch dauern? Ich denke, dass wir nach Lichtpunkten suchen müssen. Wären die Ereignisse vom August 2020 nicht passiert, wären wir nicht die Leute, die wir heute sind. Viele hätten sich nie kennengelernt. Dies ist eine Zeit für uns selbst. Auch innerhalb der Opposition gibt es unterschiedliche Überzeugungen, wir können uns austauschen. Wir geben im ganzen Land Mini-Konzerte. Einige sagen mir sie wären pessimistisch, sie sagen, jeder hat Angst. Aber dann sage ich, wir stehen hier jetzt und reden. Vor einem Jahr hätten wir uns das nicht vorstellen können. Unsere jetzigen Konzerte sind für etwa dreißig Leute. Das sind musikalische Ereignisse, die das Publikum nie vergessen wird. Wir bringen Informationen aus unserer Region, aus anderen Orten wo wir gerade waren. Es entsteht eine neue Art von Austausch. Und ein neuer Optimismus. Okay, die Proteste haben praktisch aufgehört. Es ergibt momentan keinen wirklichen Sinn, man setzt nur sich selbst und seiner Familie einem unnötigem Risiko aus. Es gibt keine konkreten Pläne. Die Führer der Opposition sind im Gefängnis oder haben sich ins Ausland abgesetzt. Aber jetzt ist das Wichtigste, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Dass wir zusammenhalten.
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Das Interview führte für uns ARDY BELD (Jahrgang 1975). Er ist Übersetzer für Russisch und Deutsch sowie als Autor und freiberuflicher Journalist tätig.