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Anderes Holz: Continuo (Review)

Artist:

Anderes Holz

Anderes Holz: Continuo
Album:

Continuo

Medium: CD/LP/Download
Stil:

Kraut, Avantgarde, Prog, Jazz, Punk

Label: Tonzonen Records
Spieldauer: 37:40
Erschienen: 20.05.2022
Website: [Link]

Wer kennt sie nicht, diese Redewendung von den Typen und Typinnen und Hen-Typi (Hab ich wen vergessen?), die aus einem 'anderen Holz' geschnitzt sind?
Nicht etwa weil sie besonders viel 'Holz vor der Hütte' oder doch nur in der Hose oder gar das eine oder andere Brett vor dem Kopf haben, sondern weil sie eben was ganz Besonderes – in welche Richtung auch immer – sind...
Und dass ANDERES HOLZ aus ebendiesem ganz besonderen Holz geschnitzt und von Dominique M. Täger, Tine Täger und Boris Boskovski zu einem außergewöhnlichen (keinesfalls hölzernen) Klanggebäude zusammengezimmert wurden, an dem beliebig immer wieder neue Verschönerungen vorgenommen werden, ist spätestens nach ihrem nunmehr zweiten Album „Continuo“ unbestreitbar.

Das sieht man nicht nur an dem einerseits schwer beeindruckenden und andererseits doch ziemlich beängstigenden Cover von „Continuo“, welches man, um die ganze Schönheit dieses kleinen Kunstwerks genießen zu können, unbedingt als LP erwerben sollte (in welcher sich zudem noch ein hochwertiges Poster dieses Covers befindet), sondern hört es auch an der Musik und den Texten, die – sagen wir es mal vorsichtig ausgedrückt – eine ähnliche Wirkkraft haben wie ein Virus. Die einen befällt es, die anderen sind dagegen immun und die dritten haben sich mit der Radio-Kultur-Spritze geimpft und sich selber längst gegen solche 'Angriffe auf die Ohren und den Geist' abgeschossen, weil ihr Mindfuck-Immunsystem nur auf tausendfach gehörte Signale reagiert und alles andere als Gefahr empfunden abwehrt.
Ja, so sind wir eben, besser auf eine scheinbare (oder doch scheinheilige) Sicherheit setzen – statt uns auf unsere eigenen, permanent von irgendwelchen Wichtigtuern abtrainierten, Instinkte und Gefühle zu verlassen. Doch hier kommt spätestens ANDERES HOLZ ins Spiel...

Nur zu gerne stimmt man den Worten zum vorausgegangenen ANDERES HOLZ-Debüt-Album „Fermate“ (2018) des Kollegen Schiffmann zu, wenn der in seinem FAZIT feststellt: „Einzigartige Bands gibt es nur noch wenige, doch ANDERES HOLZ gehören dazu.“

Ist das Kraut- oder Prog-Rock, Jazz oder Pop, Punk oder Latin?
Nö! Irgendwie von allem etwas...
Allerdings kratzt diese von Kollegen Schiffmann attestierte Einzigartigkeit natürlich auch an der einen oder anderen musikalischen Schnittstelle, von der die offensichtlich lauteste den Namen RAMMSTEIN trägt.
Außerdem ist „Continuo“ die pure Provokation für Ohr und Hirn (und auf der Bühne auch für's Auge). Es ist am ehesten Avantgarde, die in Richtung MAGMA oder jede andere Form von schrägem Musikexperiment schielt. Surreal, avantgardistisch, kafka- und zappaesk, aber keinesfalls gottesfürchtig, auch wenn der Kopf hinter der Band studierter Theologe ist, der sich leidenschaftlich mit Neologismen (Wortneuschöpfungen) schmückt, die in Verbindung mit den musikalischen Neologismen eine herrliche Einheit ergeben und gleich am Anfang des Albums auf „Sifr“ klarstellt: „Deppen, wir könn' alles verstehn, doch ihr seid Deppen, wir könn' alles verstehn...“
Man braucht schon ein ganz schön dickes Fell, um sich von ANDERES HOLZ nicht angegriffen zu fühlen, dann aber wird man über dieses abgefahrene Musikerlebnis begeistert sein. Denn hierzu gibt’s kaum was Vergleichbares, wie uns bereits der folgende Song „Morgenwelt“ klarmacht, nachdem man uns noch mit „Fick dich, weil du feige bist!“ ordentlich einen reingeschoben hat: „Was vom Menschen übrig bleibt / zerschellt / der Schaum der Tage / wintert in die stille / Morgenwelt.“

Hier wird mit Punk- und Metal-Rhythmen eher das Fegefeuer entfacht anstatt „Liebe deinen Nächsten“ gepredigt!
Und dann tanzt doch tatsächlich im dazugehörigen Video Tine Träger auch noch im Blumen-Kostüm, das wir von PETER GABRIEL im Rahmen von „Supper's Ready“ nur zu gut kennen, durch die Gegend. Absicht?

Spätestens wenn dann auch noch die Saxophon-Ekstase in „Morgenwelt“ in bester VAN DER GRAAF GENERATOR-Manier einsetzt, ist man sich auch sicher, dass hier sogar der experimentelle Progressive Rock als fetter ANDERES HOLZ-Wurm eingezogen ist.

Und dann folgt auch noch eine dermaßen schräg gespielte Flöte kombiniert mit knackigen Punk-Rhythmen und „Heya-Hey“-Gesängen, die an beste FEELIN B-Zeiten (Ja, das ist die Ost-Kapelle, aus der dann RAMMSTEIN hervorging!) erinnern.
Schön, dass dieser 'Westmusik' auch so unglaublich viel Ost-Rock innewohnen kann. Im Osten jedenfalls ordnete man solche Bands als 'die anderen bands' ein – und genau hier hätte sich ANDERES HOLZ auch einen mehr als würdigen Platz gleich neben EXPANDER DES FORTSCHRITTS erspielt. Doch auch der Westen hatte natürlich Ähnliches zu bieten, man denke nur an FOYER DES ARTS und schon sind wir wieder bei den abgefahrenen Ideen von ANDERES HOLZ, die auf „Globus“ gänzlich so klingen, als würden sie viel 'Wissenswertes über Erlangen' verbreiten wollen…
Doch dann kommt es wegen der 'Königin mit den Rädern unten dran' zum 'Hubschraubereinsatz'.

Allerdings ist das bei Weitem noch nicht alles Außer- und Ungewöhnliche rund um ANDERES HOLZ. Denn das tatsächlich Ungewöhnlichste ist die elektrische Waldzither, welche gänzlich wie eine Gitarre klingt. Oder noch besser, sogar alle Gitarrenparts übernimmt, denn ein Blick auf die im Inneren des Gatefoldcovers aufgeführte Instrumentenliste zeigt uns, dass tatsächlich keinerlei Gitarren auf diesem Album mit im Spiel sind. Aber auch das Theremin, diesmal von Ehefrau Tine gespielt, findet neben besagter Waldzither erhebliche Berücksichtigung auf „Continuo“.

Auch ist die sich ständig wandelnden Stimme von Dominique M. Täger, der seine Frau – Bassistin und Sängerin zugleich – ihre ebenfalls beeindruckenden Sangeskünste entgegensetzt und immer wieder mal für Distanz und dann wiederum für gemeinsamen Schönklang sorgt, unerlässlich. Auch geschrieen wird. Nur wäre das nicht der Fall, dann hätten sich ANDERES HOLZ bei dieser von jeglichen Genre-Schubladen befreiten Musik ernsthaft was vergeben. Außerdem können solche – nennen wir sie mal stellenweise dadaistischen und expressionistischen, aber auf jeden Fall wortakrobatischen – Texte, niemals 'normal' gesungen werden, wobei „Schwan“ der ganzen Poesie die wirre Krone aufsetzt: „jetzt vom herzen zum jetzt zwerchfell zur vagina / jetzt die sonde erwacht jetzt jetzt jetzt...“

JETZT sollte es allerhöchste Zeit für ANDERES HOLZ sein, selbst wenn die Hörgewohnheiten der Musikfreunde aus anderem Holz geschnitzt sein sollten als das der ausschließlich radiobeschallten Trantuten!

FAZIT: Als in den 60er-Jahren der Krautrock geboren wurde, ahnte keiner, wie sehr er sich rund um die Welt verbreiten würde. Doch irgendwie kam er uns dann im Zeitalter der sich dümmlich an einseitigen Formaten und Stimmungen orientierenden Funk- und Fernsehkultur abhanden. Man muss schon aus einem anderen Holz geschnitzt sein, um die expressionistische Krautrock-Dimension in Musik, Cover-Gestaltung und deutschen Texten von ANDERES HOLZ zu begreifen, zu genießen, zu mögen! Dabei schreit, inklusive manchmal auch der Gesang, auf „Continuo“ danach, diese psychedelisch-freakige Tour de Force zu mögen. Denn was ANDERES HOLZ hier leisten, ist der Spagat zwischen Liebe und Abscheu, Wohlklang und Kakophonie, Genie und Wahnsinn. Und um noch dazu den totalen Genuss der musikalisch-textlich-gestalterischen Außergewöhnlichkeit vollends genießen zu können, sollte jeder Kraut-Expressionist unbedingt auf das farbige Vinyl zugreifen. Denn das klingt nicht nur vom Sound her richtig gut, sondern sieht auch echt geil aus – ansonsten gilt im besten 'morgenweltschen' Sinne: „Fick dich, weil du feige bist!“

Literarisches PS: Wer dieses Album und all die textlichen Spitzfindigkeiten genießen kann, dem sei vorab schon einmal verraten, dass Dominique M. Täger gerade erst einen richtig dicken und zugleich richtig guten Wälzer unter dem Titel „ephemer – Ein Mindfuck-Roman * Band 1 - sternbespien“ veröffentlicht hat. Ein gigantischer, über 500 Seiten starker Roman, in dem er sich mit seiner Sprachwucht und jeder Menge Skurrilität mit seinen Protagonisten – irgendwo zwischen ZAPPA und CELAN – auf die Suche nach den ganz großen Fragen des Lebens begibt. Eines Lebens, das ständig zum gigantischen Arschtritt auszuholen sucht – oder um es mit den Worten des Klappentextes auszudrücken: „Wie hängen diese zersplitterten Leben in diesem Mindfuck-Roman zusammen? Und, oh, ihr Sterne, steht uns bei! Denn es geht um Liebe, um Liebe und Tod.“ Eben ein echter Roman, der aus ganz 'Anderem Holz' gemacht ist!

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info) (Review 1642x gelesen, veröffentlicht am )

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Tracklist:
  • Seite A (17:34):
  • Sifr (7:12)
  • Morgenwelt (3:44)
  • Stereo Indigo (4:00)
  • Fase (2:34)
  • Seite B (20:06):
  • Globus (6:08)
  • Neume (2:15)
  • Schwan (3:33)
  • _ Le Conard Liquid _
  • * Buti (2:25)
  • ** Copor (3:32)
  • *** Philia (2:13)

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