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Interview mit Green Carnation (14.01.2006)
Green Carnation grenzten ihre Album bisher so subtil voneinander ab, dass sie gleichsam unberechenbar wie verlässlich wirken: statt krampfhafter Neuorientierung verlagern die Norweger ihren Schwerpunkt Stimmungen betreffend jedes Mal neu. So schreiten sie vorausschauend auf Wegen zwischen Metal, Rock und Prog einher und vergessen den Blick zur Seite nicht.
Für „The Acoustic Verses“ richteten sich die Augen auf Herbstlandschaften, deren Eindruck auf die Gemüter in sachte Musik ohne Larmoyanz transferiert wurde. Stein Roger Sordal bestätigt:
„Der Sound und das Cover greifen den gleichen Vibe auf. Das Album basiert auf dem von dir angesprochenen ‚braunen’ Gefühl von ein wenig Wärme in einer kalten und grausamen Welt, auch wenn manche Hörer das sicher anders sehen werden.“
Dem Bassisten fällt auf dem neuen Werk als Sänger eine größere Rolle zu. Laut Bandkopf Tchort zeichnete sich diese Entwicklung im Laufe der Aufnahmen ab.
„Stein Roger übernimmt viele Passagen im Hintergrund, wenn wir live spielen – er unterstützt dann den Gesang, während Kjetil sich bei Aufnahmen bisher immer selbst doppelte. Nun singt Stein Roger einen Song ganz alleine und einen weiteren im Duett mit Kjetil (den zweiten, bzw. dritten auf dem Album - AS); außerdem ist er für Fills in einigen anderen Stücken zuständig“
- und für das viertelstündige Kernstück der Scheibe, das den kryptischen Titel „9-29-045“trägt. Dessen Bedeutung möchte der Tieftöner nicht preisgeben:
„Es geht um eine persönliche Angelegenheit, die ich für mich behalten will, aber es ist nicht wichtig für den Song an sich. Deshalb wählte ich auch die Untertitel als Hinweise für diejenigen, die nachbohren,“ witzelt er und wirft mit undurchsichtigen Erläuterungen nur mehr Fragen auf: „Ich wollte ein Stück schreiben, das ich von Zeit zu Zeit hervornehmen kann, um mir bewusst zu machen, dass es Dinge gibt im Leben, die man einfach nicht verstehen kann – viele Fragen ohne Antworten und Menschen, die sich darum bemühen, den nächsten Tag zu erleben. Ich weiß, es klingt abgeschmackt, aber ich beobachte die Kämpfe, die manche Leute täglich austragen und muss mich beschwichtigen: ‚Gibt es jemanden, der mich absichert?’ - Die Stimmsamples stammen von CNN. Ich habe mir, glaube ich, Nachrichten angeschaut und gedacht: ‚Verdammt, was geschieht hier?’, und das vermieste mir einen ohnehin schon schlechten Tag, hehe...Ich machte den Fernseher aus und schrieb den Rest des Stückes so, wie ich die Sache gerne ausgehen gesehen hätte. So entstand 9-29-045.“
Sordals neue Gewichtung innerhalb der Band bestätigt die Entwicklung Green Carnations vom alleinigen Geisteskind Tchorts hin zu einer echten Gruppe. Durch Einbeziehung aller Mitglieder entstand eine Einheit:
„Aber andererseits auch eine neue Herausforderung.,“ wie Tchort ausführt, denn „es ist schwieriger, alle Beiträge unter einen Hut zu bringen, so dass die Stücke homogen klingen und nicht, als stammten sie von unterschiedlichen Alben. Alle Mitglieder sind nämlich sehr unterschiedliche Charaktere, aber ich denke, wir haben die Aufgabe ganz gut gemeistert - oder?“
Zweifellos, denn wie verschiedene Persönlichkeiten sich untereinander reiben und kreativ beflügeln, so stehen die bisherigen Veröffentlichungen der Gruppe jeweils für sich, zeugen aber als Ganzes gesehen von schöpferischer Konstanz.
„Viele Leute wollen nicht, dass sich ihre Lieblingsband verändert. AC/DC-Fans etwa würden sich umbringen, wenn die Band plötzlich eine Progressive-Album veröffentlichte. Bei uns war es schon immer so, dass wir uns drastisch verändern – schon vom Debüt zum zweiten Album, und später ebenfalls. Man wandelt sich als Musiker und Mensch: warum sollte man dies nicht auch in die Musik einfließen lassen? Die Musik, die wir mit Green Carnation machen, liegt uns sehr am Herzen. Es ist keine Fiktion; wir schreiben über Dinge, die uns selbst passiert sind, Beobachtungen, Träume, und so weiter...und das scheint in unserer Musik durch. Sie verändert sich, so wie wir es tun - das ist ganz natürlich. Unnormal wäre es, wenn wir verkrampft an der gleichen Sache festhielten, obwohl diese nichts mehr mit uns zu tun hat.“
Tchort selbst ist das beste Beispiele für diese stete Progression: nach ersten Schritten in der musikalischen Öffentlichkeit mit Emperor in den frühen neunziger Jahren ist er schließlich an den unterschiedlichen Polen Green Carnation und Blood Red Throne angekommen und deckt somit ein Spektrum von extremem Metal bis zu progressivem Rock ab. Hat sich sein Musikgeschmack also in all den Jahren gewandelt oder erweitert?
„Nicht so sehr. Ich bin ein wenig offener als früher, aber das liegt sicher auch an meiner Frau, die Lateinamerikanerin ist und viel südamerikanische Musik hört mit all den typischen Rhythmen. Sie mag auch vieles von dem Siebziger-Prog-Zeug, und mein Sohn hört alles von Mötley Crue bis hin zu Kinderliedern. Deshalb habe ich schon zu Hause mit unterschiedlichen Stilen zu tun. Ich bin allerdings immer noch Extrem-Metal-Fan und höre überwiegend Death Metal.“
Kontakt zu ehemaligen Weggefährten wie Emperor-Kopf Ihsahn hat der Gitarrist jedoch kaum noch.
„Seit der Zeit mit Emperor habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen und höchstens einmal ‚Hallo’ in einer Bar zu ihm gesagt – nichts Besonderes also...Mit Samoth stehe ich noch ein wenig, und mit Faust stand ich in Kontakt (Ex-Emperor-Drummer und -Gitarrist – AS). Wir wohnen fünf Stunden voneinander entfernt, so dass sich das ohnehin nur über E-Mail abspielt.“
Ein Relikt jener vergangenen Tage ist noch der Name Tchort, „russisch für den Teufel“. Die Zukunft dagegen bringt definitiv keinen weiteren Teil von „Child’s Play“. „Ich habe nur drei Teile eingeplant. Eigentlich sind der zweite und dritte Teil der gleiche Song, bloß jeweils aus der Sicht einer anderen Person – gewissermaßen covern wir uns also selbst.“
Weiterhin wird die Band im Februar eine sechswöchige US-Tour starten und später auch die alte Welt beehren. Das Interesse der Amerikaner an der unprätentiösen Gruppe und ihrer Zeitgeist-freien Musik überrascht; auch gehen europäische Bands dort auf Konzertreisen gemeinhin durch eine harte Schule.
„Das Touren war in der Tat niemals leicht für uns. In 15 Jahren gab es nur eine Tournee (Green Carnation waren Anfang der Neunziger noch ein Death-Metal-Projekt zusammen mit den Botteri-Brüdern von In The Woods – AS). Wir absolvieren aber viele kurze Konzertreisen, zum Beispiel für drei oder vier Gigs an einem langen Wochenende, und das macht uns sehr viel Spaß. Zuletzt waren wir in Finnland, der Schweiz und Italien, jeweils zum ersten Mal.“
Seit einiger Zeit kümmert sich Tchort selbst um die geschäftlichen Belange von Green Carnation und hat dafür sein eigenes Label Sublife Productions ins Leben gerufen, über welches er auch anderen Gruppen ein Forum gibt. Neben bekannten Namen wie Trail Of Tears mit Kjetil Norhus und Carpathian Forest stechen vor allem die abgedrehten Zymbiotic und The Allseeing I hervor.
„Als nächstes stehen die Debütalben von Harm und The Allseeing I an, über die im norwegischen Untergrund bereits viel gesprochen wird. Daher dachten wir, es sei an der Zeit, ihnen die Gelegenheit zu geben, sich mit Aufnahmen auch im Ausland vorzustellen. Ich finde beide Bands sehr aufregend, und ihre Scheiben werden großartig sein! Sie sind alle Freunde von mir, und Erlend von The Allseeing I ist auch Bassist bei Blood Red Throne. Daher weiß ich genau über die Band Bescheid.“
Ein Wunder, dass bei alledem der Fokus auf Green Carnation bleibt:
„Das nächste Album ist bereits geschrieben. Obwohl einige Ideen sich an „Light of Day, Day of Darkness“ (das zweite Album – ein einziger einstündiger Song - AS) orientieren, ist es noch viel zu früh sagen zu können, wie es klingen wird. Ich habe einige Hoffnungen und Zielsetzungen, aber normalerweise ist das aufgenommene Resultat doch ganz anders, als die Musik, die man zuvor im Kopf hatte.“
Sicher ist also nur wieder einmal, dass nichts vorhersehbar ist im Hause Green Carnation. Enttäuscht haben sie jedoch noch nie. Hoffen wir, dass dies so bleibt und wünschen den umtriebigen Norwegern weiterhin ungebremste Kreativität.
Andreas Schiffmann
(Info)