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Pop-Kultur Festival 2022 - Kulturbrauerei, Berlin, 24.08.-26.08.22 - 26.08.2022
Nachdem das Berliner Pop-Kultur Festival 2020 pandemiebedingt rein virtuell und 2021 unter einschränkenden Maßnahmen hatte stattfinden müssen, konnte die diesjährige Auflage wieder in gewohntem Umfang stattfinden. In 11 Spielstätten der altehrwürdigen Kulturbrauerei in Berlin konnten an drei Tagen (theoretisch) 120 Veranstaltungen mit Konzerten, Lesungen, Talks, Vorträgen, Theaterstücken und den sogenannten Commissioned Works (Auftragsarbeiten, die speziell für das Festival realisiert werden) besucht werden. Dass das nur theoretisch möglich war, lag daran, dass das dicht gedrängte Programm an lediglich drei Tagen in den Abendstunden verdichtet wurde – was dann schlicht dazu führte, dass etliche Programmpunkt parallel stattfanden. Die im letzten Jahr demonstrierte Entzerrung auf vier Tage mit früheren Anfangszeiten wäre daher in Zukunft dringend zu empfehlen.
Das soll's dann aber auch gewesen sein mit der Meckerei.
Als optisches Leitmotiv hatte sich die Festivalleitung eine kunterbunte Unterwasserwelt mit „blühenden“ Korallen-Feldern gewählt. Ein schönes Sinnbild für die unglaubliche Vielfalt, die das Programm beinhaltete. Auf der musikalischen Seite (und um die geht es ja hier) wirkte sich diese Angebot auf eine in jeder Hinsicht barrierefreie Vielfalt aus. Nicht nur, dass hier in Sachen Gender-Equality, Awareness, Inklusion, stilistische Abwechslung, Internationalität, Nachwuchsförderung und Diversität Vorbildliches geleistet wurde – auch in geschmacklicher Hinsicht dürfte das überwiegend junge, ansonsten aber kunterbunt gemischte, Publikum auf seine Kosten gekommen sein.
Tag 1:
Bereits bei der Eröffnungsveranstaltung stimmte das Inklusive Bandprojekt 21 DOWNBEAT des Ramba-Zamba-Theaters mit einer Interpretation des Ur-Berliner „Bolle“-Songs auf den Anspruch des Festivals ein, für wirklich alle etwas bieten zu wollen.
Und so ging das dann nahtlos weiter: Am Mittwoch etwa boten SALOMEA Rap-Pop mit kompletter Band im Maschinenhaus.
Der Kanadische Songwriter SEAN NICOLAS SAVAGE trug ein (Alb)traumhaftes 1-Mann-Theaterstück mit dem Titel „The Fear“ im Stil eines klassischen Schattenspiels vor.
Die britische Songwriterin ANNA B. SAVAGE präsentierte sich mit wenigstens einer Solo-Repräsentation ihrer im Rahmen der Pandemie arg gebeutelten Debüt-LP „A Common Turn“.
Das im Lettischen Exil residierende, weißrussische Trio DLINA VOLNY (= „Wellenlänge“) schaffte es, auf faszinierende Weise zeitgemäß aktualisierten, gittarenlosen Düster-Pop im Stil der 80er Jahre im Frannz-Club zu spielen, als hätten sie das Genre vor kurzem selbst erfunden (auch wenn MASHA ZINEVITCH und ihre beiden Mitstreiter aufgrund des vielen Kunstnebels und der restriktiven Beleuchtung bestenfalls als Schattenrisse zu sehen waren).
EDWARD HUNT (KIOSK) aus Stuttgart versuchte sich mit technischen Problemen an seinem Funky Pop Wave und schaffte es dabei tatsächlich, sich ausgerechnet in seiner Gitarre zu verheddern – obwohl er doch eigentlich den E-Pop als Mittel bevorzugt.
Kurz danach bot die aus Bielefeld stammende CHRISTIN NICOLS - erneut im Frannz Club - unterhaltsamsten Schweinerock mit deutschen Texten und jeder Menge Rockposen – und zeigte insbesondere den männlichen Fans, wo die Rock-Axt hängt und wo die großen Posen zu finden sind.
Am Ende des Tages vernichtete das kanadische Postpunk-Trio Metz an gleicher Stelle jeden Anflug musikalischen Maßhaltens in einem Testosteron-gesteuerten Gewaltakt epischen Ausmaßes. Will meinen: Es krachte recht ordentlich. Das war für die Herren offenbar so heikel, dass sie sich eine fotografische Dokumentation ihres Tuns verbaten.
Übrigens: Die Idee die Umbaupausen in den größeren Spielstätten mit DJ-Sets zu „füllen“ funktionierte aufgrund des großen Angebotes an Alternativen dann doch nicht so richtig.
Tag 2:
Der zweite Tag des Festivals begann dann gleich mit einer harten Nuss: Die französische Sängerin, Songwriterin, Produzentin und Musikerin JULIE BESSART hat sich unter dem Moniker HSRS wohl vor allen Dingen auf die Fahnen geschrieben, anders als andere (insbesondere französische Kolleginnen aus dem Pop-Bereich) sein zu wollen und verstieg sich mit ihren Musikern in avantgardistischer Eklektik – leider ohne erkennbaren roten Faden und auf ziemlich anstrengende Art und Weise.
Ein ganz anderes Problem hatte die Wahlberliner Darkpop-Queen ANITA „ANIQO“ GOSS anschließend im Frannz-Club. Denn dort gab es erneut dermaßen viel Kunstnebel und dermaßen wenig Licht, dass die Musiker praktisch nicht zu sehen – geschweige denn zu identifizieren waren. Das nahm der Sache gewaltig von ihrem morbiden Charme, denn bei einem Konzertbesuch erwartet man schließlich das optische Element als Zusatznutzen. Und die Musik wird ja auch nicht besser, wenn man nichts Wesentliches erkennen kann.
Zur Versöhnung nach diesem schwierigen Start folgte dann im Palais das absolute Tageshighlight in Sachen Live-Show. Die Australierin GRACE COMMINGS zeigte mit ihrer Band (zu der auch ihr Bruder KYLE an der Leadgitarre gehörte), was auf der Bühne möglich ist, wenn man sich seinem Material nur mit der nötigen Inbrunst, Hingabe, großer musikalischer Ernsthaftigkeit auf der einen Seite und einer Portion selbstironischer Übersteigerung auf der anderen widmet. Dabei machten Grace & Co. nun wirklich nichts Neues, sondern einfach nur gute, elektrische Rockmusik mit dezenten Schweinerock- und Blues-Andeutungen. Was indes besonders erschien, war Graces gutturale Stimme, die so gar nichts vom standardisierten Röhren diverser Rock-Ladies hat.
In der kultigen Spielstätte „Alte Kantine“ übte sich derweil die französische Musikerin und Produzentin THEODORA an ihrer Version einer New-Wave- und Darkpop-Ästhetik. Das eigentlich Interessante daran ist der Umstand, dass Theodoras Leitinstrument ein Bass ist.
In der größten Spielstätte – dem ehemaligen Kesselhaus der Kulturbrauerei – standen die inzwischen zur Institution gewordenen Lokalpatrioten von ISOLATION BERLIN bereit, um das Publikum mit wie gewohnt poetisch überhöhtem Indie-Rock zu unterhalten. Kurz gesagt: Natürlich läuft das heutzutage alles ein wenig relaxter ab als zu Beginn der Laufbahn, aber so viel hat sich gar nicht verändert, seit TOBIAS BARBOSCHKE und seine Jungs 2015 beim ersten Pop-Kultur-Festival als Frischlinge auf der Bühne standen.
Da es das Programm gerade hergab, eröffnete ein Blick ins Palais danach noch ein zur Zeit in voller Blüte stehendes Phänomen. Denn dort stand ANNA-CATHERINE „UFFIE“ HARTLEY auf einer weitestgehend leeren Bühne und präsentierte ihre energiegeladenen, gefälligen E-Pop-Songs einem tanzwütigen, jugendlichen Publikum, welches sich überhaupt nicht daran störte, dass die Musik fast vollständig von der Harddisk eingespielt wurde. Immerhin griff UFFIEs onstage DJ, der die besagte Musik von verschiedenen Pads aus triggerte, hin und wieder zu einem Bass - was der Sache dann eine ganz eigene Dynamik verlieh. UFFIE ist dabei nach einer Auszeit in Sachen Musik (sie macht auch in Sachen Mode) offensichtlich beim zweiten Teil ihrer Karriere angekommen und hat dabei den aktuellen Zeitgeist durchaus verinnerlicht.
Tag 3:
Der letzte Tag des Festivals stand noch einmal im Zeichen beeindruckender Commissioned Works.
Der Abend begann mit dem Theaterstück „52 Jokers“ mit Musik von PAUL WALLFISCH (BOTANICA), JIM COLEMAN und LITTLE ANNIE. Das zwei Personen-Stück war lose angelegt an die Biografie der Underground-Ikone LITTLE ANNIE und erforschte – mit Hilfe von Visuals von LOLA COLEMAN und der Indie-Regisseurin BETH B; die auch für die Regie verantwortlich zeichnete – die Zusammenhänge zwischen LITTLE ANNIEs Lebensentscheidungen, ihren Affären und Skandalen und der Rolle, die der Schmerz in diesem Zusammenhang spielt. Neben LITTLE ANNIE stand dafür noch die finnische Musikerin und Burlesque-Künstlerin EVELIN FRANTIC als jüngeres Alter Ego von LITTLE ANNIE auf der Bühne und beeindruckte bzw. verschreckte das Publikum mit mehreren Live-Piercing-Performances.
Aus einem ganz anderen Holz geschnitzt – aber nicht weniger ambitioniert und relevant – war das nachfolgende Projekt „Photophobia“ der brasilianischen Trans-Frau SANNI EST. Dabei ging es SANNI darum, mittels Visuals und Animationen aus der Ausstellung „Photophobia – The Preview“, Live-Musik mit Club-, E-Pop- und Tribal-Elementen, Gesang, Tanz und Performance ein dicht gewebtes Panoptikum aus Bildern und Sounds zu erschaffen, in dem sie ihre politischen Anliegen zu den Themen Transformation und Empowerment verquickte. Interessant für den Betrachter: Keine der genannten Disziplinen alleine hätte dabei so überzeugend funktioniert, wie alle zusammen.
Im Soda-Club findet beim Pop-Kultur-Festival die Nachwuchsförderung statt. Und dort spielte die aus Athen stammende Indie-Künstlerin Σtella zum ersten Mal mit Band vor einem Publikum, um die Songs ihres Albums „Up And Away“ zu präsentieren, das vor kurzem auf dem legendären Sub-Pop-Label erschienen war. Leider gab es hier keine Bouzoukis und Zithern (wie auf der Scheibe), sondern stattdessen Keyboard-Sounds.
Auch die Amerikanische R'n'B-Künstlerin und Aktivistin XENIA RUBINOS stellte im Folgenden wieder eher die Performance als solche ins Zentrum und präsentierte mit ihren Musiker(inne)n eine wilde Show mit zahlreichen karibischen Akzenten – die allerdings nicht aus dem Reggae-Genre, sondern den Voodoo-Traditionen entnommen waren und teilweise in beschwörende Santeria-Gospel ausarteten (logischerweise teilweise auf Spanisch).
Die Lokalmatadorin und angesagte Indie-Queen THALA hatte praktischerweise ihr eigenes Publikum mitgebracht und schaffte es, mit ihrer (für ihre Verhältnisse) druckvollen und lebhaften Show, den Frannz-Club zeitweise in ein Tanzhaus zu verwandeln.
Eine der ersten Shows des neuen Band-Projektes PUBLIC DISPLAY OF AFFECTION – bei dem sich JESPER MUNK und MADELEINE ROSE (TANZTHEATERKOLLEKTIV DAS GEGENTEIL) zusammen gefunden haben, um die Unvernunft im Rock'n'Roll-Zirkus wieder salonfähig zu machen - geriet dabei zu einer wegweisenden Demonstration dafür, was auf der Bühne (oder gerne auch davor) heutzutage noch möglich ist, wenn man nur alle Hemmungen fallen lässt. Das war hyperaktiver musikalischer und performerischer Wahnsinn in Perfektion.
Und am Ende gab es dann noch eines dieser eigenartigen Beispiele für die heutzutage wohl angesagteste Form des Retorten-Pop. HANNAH DIAMOND präsentierte sich bei ihrem Auftritt im Maschinenhaus mit einem Mix aus Game Of Thrones und Disney-Optik und alleine bewaffnet mit einem Mikro und einem Pedalboard, mit dem sie die Backingtracks ihres aus lauter zuckersüßen E-Pop-Songs mit starkem Club- und EDM-Charakter bestehenden Sets triggern konnte. Während im Hintergrund aufwendig produzierte Visuals liefen, rannte sie von einer Seite der Bühne auf die anderen und feuerte die tobenden Fans an, mit ihr die totale Künstlichkeit zu feiern. Schon alleine der Umstand, dass HANNAH konsequent über einen Autotune-Filter singt, hatte lange Zeit die Spekulationen darüber genährt, dass es sich bei diesem Projekt vielleicht tatsächlich um einen Avatar handeln könne, wie man solche aus Japan bereits kennt. Nun: HANNAH DIAMOND ist zweifelsohne eine Person aus Fleisch und Blut – nur ihre Musik ist es halt nicht. Freilich: So etwas stört ja heutzutage sowieso niemanden mehr.
Fazit: Für Leute, die zu Konzerten oder Festivals gehen, um ihre Erwartungshaltungen bestätigt zu bekommen, ist das Pop-Kultur-Festival sicherlich denkbar ungeeignet. Für Freunde musikalischer und performerischer Überraschungen und Experimente hingegen ist es zunehmend unverzichtbar.