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Holger Czukay: Gvoon / Brennung 1 (Review)

Artist:

Holger Czukay

Holger Czukay: Gvoon / Brennung 1
Album:

Gvoon / Brennung 1

Medium: CD/LP/Download
Stil:

'Neue Musik', Ambient, atmosphärische Stasi-Verhörzellen-Klänge

Label: Grönland/Good To Go
Spieldauer: 64:48
Erschienen: 28.03.2025
Website: [Link]

„Ich halte das Material für einen essenziellen Teil seines Solowerks. Ein futuristisches Kleinod, das für seine Entstehungszeit musikalisch weit vorne ist; dabei sehr tief und emotional für so ein abstraktes Soundgebilde. Gleichzeitig leicht und offen nach allen Seiten...“ (Dirk Dresselhaus zu dem ihm überlassenen und von ihm gemasterten Czukay-Werk „Gvoon – Brennung 1“)

Gut drei Jahrzehnte mussten wir auf dieses düstere, schwer bedrückende Werk des Stockhausen-Schülers und CAN-Masterminds HOLGER CZUKAY, der am 5. September 2017 in seinem eigenen Studio verstarb, warten. Und wahrscheinlich wäre es und die extrem spannende wie grausame Geschichte dahinter für immer verschwunden geblieben, wenn nicht Dirk Dresselhaus durch einen Zufall auf den Performance-Künstler Arthur Schmidt getroffen wäre, der Mitte der 90er-Jahre auf den ihm damals noch unbekannten Czukay traf, weil der ihn während einer Vernissage zu dem Trendmotto 'Neue Medien' direkt aufgesucht hatte, um dann mit ihm in diesem Rahmen gemeinsam musikalisch wie audiovisuell und digital zu experimentieren.

Das alles kann man auf den sehr ausführlichen Linernotes der LP-Innenhülle im Rahmen der „Gvoon / Brennung 1“-LP auf transparentem Vinyl nachlesen, was man unbedingt noch vor dem Hören dieser über 60 Ambient-Experiment-Minuten tuen sollte, ansonsten könnte dieses einstündige Hörerlebnis recht verstörend enden. Mit dem Hintergrundwissen jedenfalls erschließt sich dieses finster anmutende und bedrohlich wirkende, aber auch mit vielen verblüffenden Klangcollagen aufwartende Czukay-Universum noch deutlicher. Denn der CAN-Tasten-Maestro war immer dann ein besonders gespannter Zuhörer, wenn Arthur Schmidt über seine DDR-Zeit erzählte, inklusive seiner Republik-Flucht und den grausigen Aufenthalten in verschiedenen Zuchthäusern der DDR, von denen natürlich besondere Berühmtheit der qualvolle Stasi-Knast in Bautzen – von den Insassen und Anwohnern heimlich als 'das gelbe Elend' betitelt – besaß.


Diese Erzählungen ließen Czukay nicht los, sodass er mit diesem Hintergrund speziell eine Art Gelbe-Elend-Soundtrack des Stasi-Schreckens entstehen ließ, das nun als erster Teil unter dem Titel „Gvoon / Brennung 1“ vorliegt. Und zwar ausschließlich, weil Arthur Schmidt eines Tages im Jahr 2023 am Rande einer Tanz-Performance in Berlin eine USB-Stick mit den Czukay-Aufnahmen aus der Tasche zog und diesen an Dirk Dresselhaus mit den Worten: „Holger hätte das auch gewollt, dass damit was passiert. Das Album hat mir Holger in den 90ern mal geschenkt und ich habe es nie benutzt. Ich habe die Aufnahmen eher durch Zufall auf der Suche nach Sounds für mein jetziges Projekt 'Innen' (der Klang einer Stasi-Gummizelle für besonders renitente politische Häftlinge – T.K.) wiedergefunden. Jetzt gebe ich es dir und du kannst damit tun und lassen, was du willst.“, weiterreichte.

In dem Bewusstsein, dass Dresselhaus es hier mit einem tonalen Czukay-Diamanten, das der CAN-Keyboarder in seinem eigenen Studio entwickelt und aufgenommen hatte, zu tun bekam, ließ ihn in seinem eigenen Studio das Material vorsichtig nachbearbeiten, da der originale Mix seinerzeit nur gemischt, aber noch nicht gemastert worden war. So optimierte er den vorhandenen Czukay-Stereo-Mix im Mastering-Prozess, immer sehr sorgsam darauf bedacht, das Original nicht zu beschädigen oder zu verfremden: „Andere 'Fehler' wie Knackser oder Clicks, etwa von hart geschnittenen Samples, die musikalisch nicht unbedingt interessant waren, habe ich mit spezieller Software herausrestauriert. Das war schon ein Balance-Akt, denn ich musste die Software so fein justieren, dass nur bestimmte Störgeräusche eliminiert wurden und andere, musikalisch interessante, erhalten blieben.“

Und das Ergebnis kann sich hören lassen.
Natürlich nur für diejenigen, denen besonders die bereits älteren, sich weit ausladenden (Ambient-)Klangflächen hingebenden Czukay-Werke wie „Plight & Premolition“ (1988) oder „Flux & Mutability“ (1989), welche beide in Zusammenarbeit mit dem JAPAN-Kopf DAVID SYLVIAN entstanden, am Herzen und in den Ohren liegen.


Aber auch diejenigen, die in der DDR schreckliche, erniedrigende Erfahrung mit der Staatssicherheit machen mussten, sollten sich unbedingt „Gvoon / Brennung 1“ zu Gemüte führen, denn hier versuchte HOLGER CZUKAY den von ARTHUR SCHMIDT geschilderten Stasi-Schrecken den passenden Klang zu verleihen. Ein unglaublich schweres Unterfangen, das in dieser Form tatsächlich nur ein Klangzauberer wie der Stockhausen-Schüler und höchst kultisch verehrte CAN-Musiker Czukay meistern konnte. Es ist also ein großes Glück – auch für diejenigen, die noch immer unter dem viel zu schnellen Vergessen in Deutschland leiden –, dass das düstere „Gvoon / Brennung 1“ Jahrzehnte später das Licht einer Welt erblickt, in der so viele Politiker den Namen Münchhausen tragen müssten und einer der größten Lügenbarone derzeit das höchste Amt in Deutschland anstrebt, weil ihm die Macht mehr am Herzen liegt als seine Versprechen und die Menschen, für die er eigentlich die Verantwortung tragen sollte. Oh ja, in der DDR kannte man so etwas schon und konnte sehen, wohin das führt, denn eine Diktatur sensibilisiert die Menschen auf eine völlig andere Art, als diejenigen, die vorrangig in Freiheit und Wohlstand großgeworden sind wie der merzsche König von Deutschland. Genau dieser Ton schwingt auch in „Gvoon / Brennung 1“ von HOLGER CZUKAY aus Anlass der von ihm vertonten Stasi-Schrecken eines ARTHUR SCHMIDT mit!


Stellenweise zittern bei diesem Hintergrund dem aus der DDR stammenden Kritiker, der selber eine schreckliche Stasi-Vergangenheit, festgehalten auf 270 erhaltenen (viele zusätzliche mit den Maßnahmeplänen gegen ihn wurden noch kurz vor Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße vernichtet) Stasi-Seiten, beim Schreiben der Review regelrecht die Hände. Und ja: „Gvoon / Brennung 1“ bringt musikalisch genau das bedrückende wie bedrohliche Gefühl zum Ausdruck, das einen befallen musste, wenn man in die Fänge dieser unmenschlichen, nach schlimmsten russisch-stalinistischen Vorbild agierenden Geheimorganisation geriet, die ihre ganze Macht auf der Angst des (einzelnen) widerständigen Menschen und dem Brechen seines Willens mit allen Mitteln, auch körperlicher wie seelischer Folter, aufbaute. Ein Mittel, an dem man (von der Folter – bisher – mal abgesehen) auch heute wieder immer stärker in unserem Land arbeitet, um Anpassung und Gefügigkeit und Mitläufertum voranzubringen. Eine erschütternde, aber für viele ehemalige DDR-Bürger eindeutige Erkenntnis. Denn wer in einer Demokratie Mauern – egal welcher Art baut und Wählermeinungen ignoriert bzw. unbequeme Wähler als Nazis kategorisiert – baut und den Willen von Mehrheiten ignoriert, der lässt es früher oder später auch zu, dass sich solche Zustände in unserem Land wiederholen oder durchsetzen, besonders dann, wenn unzweifelhaft als Lügner enttarnte Männer oder Frauen in das höchste Staatsamt erhoben werden! Betrüger besitzen keine Moral, was im Kleinen nicht dramatisch ist, im Großen aber hochgefährlich...


FAZIT: 'Neue Musik', Ambient, atmosphärische Stasi-Verhörzellen-Klänge und eine atemberaubende, unmöglich erscheinende, aber darum um so spannendere Geschichte rund um den Schüler Stockhausens und CAN-Mastermind HOLGER CZUKAY sowie seinen engen, von der Stasi in der DDR gequälten Freund und Performance-Künstler ARTHUR SCHMIDT sowie den die Gunst der späten CAN-Stunde nutzenden DIRK DRESSELHAUS verbirgt sich hinter „Gvoon / Brennung 1“. Eine Hommage von Czukay voller dunkel-bedrohlicher Töne und effektvolle Stereo-Eskapismen an seinen ehemals im Stasi-Knast schmorenden (und genau diese Situation vertonten) Freund Schmidt, der Jahrzehnte später diese Aufnahmen Dresselhaus überlässt, damit wir sie nunmehr von transparenter Vinyl-LP und/oder CD zu Gehör bekommen. Eine unglaublich finstere Musikreise, die sehr intensiv auch an die Ambient-Zusammenarbeit Czukays mit dem JAPAN-Kopf DAVID SYLVIAN erinnert. Musik, die tiefe Emotionen besonders auch bei denen auslöst, die traumatische Erfahrungen mit der Stasi in der DDR machen mussten (welche bei der unfassbaren links-grünen-antifa Denunziations-Melde-Euphorie in erschreckender Weise wiederaufzuleben erscheint, was tatsächlich mit dem Erhalt einer Demokratie begründet wird, aber eindeutig der Aufbau der Diktatur in Richtung DDR 2.0 von hinten herum ist) und die damals beispielsweise auch die Musik von CAN mit am (Über)Leben hielt!

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info) (Review 1066x gelesen, veröffentlicht am )

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Tracklist:
  • Seite A (32:08):
  • Gvoon / Brennung 1 A
  • Seite B (32:40):
  • Gvoon / Brennung 1 B

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