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Interview mit Blind Guardian (07.07.2017)

Blind Guardian
Foto: Hans-Martin Issler

Der Kreis schließt sich

Mit André Olbrich zu sprechen ist nicht nur deshalb eine Freude, weil der Gitarrist naheliegenderweise einen anderen Blickwinkel auf BLIND GUARDIANs Schaffen hat als Sänger Hansi Kürsch, der am häufigsten zu Interviews bittet. André erweist sich während unserer Unterhaltung über die aktuelle Tournee-Aufarbeitung “Live Beyond The Spheres” als immer noch hingebungsvoller Musiker und gibt Einsichten zur Band preis, die man in dieser Form nicht unbedingt in jeder Zeitschrift liest.

 André, warum ausgerechnet jetzt ein Live-Album von BLIND GUARDIAN?

Wir sind oft gefragt worden, wann wir wieder Konzertmitschnitte veröffentlichen würden, weil wir inzwischen seit über zehn Jahren einen neuen Schlagzeuger und neuerdings auch einen festen Bassisten haben. Dadurch verändern sich eine Band und ihre Performance natürlich, also machten wir uns Gedanken darüber, wie man das aufziehen könnte, denn irgendwie hatten wir immer das Gefühl, Live-Scheiben seien unnötig geworden, da heutzutage so viel über das Internet zugänglich geworden ist, auf YouTube oder anderen Plattformen, und das nicht nur in Bootleg-Qualität. Darum dachten wir, falls überhaupt, müsste man etwas herausbringen, das für die Fans richtig interessant ist, weil sie es nicht ohne weiteres kriegen können, und das sind eben jene magischen Momente, die sich im Laufe von Tourneen so ergeben. Dummerweise weiß man auch als Musiker nie, wann und wo das passiert, weshalb das Projekt sehr aufwändig wurde. Wir versuchten, so viele Konzerte unserer letzten Tournee wie möglich aufzunehmen, damit uns keiner dieser Augenblicke entging. Das war eine technisch komplexe Geschichte, bei der wir nichts dem Zufall überlassen wollten, zumal wir 2003 bei der Produktion unseres vorigen Live-Albums so unsere Erfahrungen und Fehlern gemacht hatten. Schwierig ist vor allen Dingen die Einbeziehung der unterschiedlichen Hallengrößen. Schließlich sollten der Sound einheitlich sein und die Zusammenstellung klingen wie eine einzige Show statt eines Flickenteppichs.

Anders als vor 13 Jahren arbeiten wir mittlerweile mit sogenannten digitalen Amp-Profilern, die gewährleisten, dass man jeden Abend exakt den gleichen Gitarrensound hat, und Innenohr-Kopfhörern, sodass wir auf der Bühne nur das Schlagzeug hören und ein sehr natürliches Signal davon haben. Hinsichtlich der Gesangsmikrofone haben wir einige Experimente gemacht und bis zu 20 Modelle getestet, bis wir eins mit sehr wenigen Einstreuungen und Nebengeräuschen fanden. Zuletzt legten wir auch Wert darauf, die Stimmung im Saal und die Zuschauer einzufangen. Ohne vorangehende Planung geht so etwas nicht, aber jetzt hat der Hörer fast das Gefühl, selbst dabei gewesen zu sein, oder kann jene Momente noch einmal erleben, falls er anwesend war.

Künstler wie Steven Wilson tingeln mit 5.1-Soundsystem durch die Lande; das wäre doch auch für eine Band wie euch reizvoll, oder?

Interessant ist diese Technologie auf jeden Fall. Ich persönlich verfolge solche Entwicklungen generell mit, und wir haben sogar tatsächlich schon Ideen für die Zukunft, die in eine ähnliche Richtung gehen. Genaueres darf ich aber noch nicht verraten (lacht).

Stichwort Projekte: Euer Klassik-Album musste im Zuge von “Live Beyond The Spheres” wohl wieder hintanstehen, nicht wahr?

Klar, auf Tour konnten wir schlecht daran weiterarbeiten. Hansi ist momentan auch im Studio und nimmt Gesangsspuren dafür auf. Anfang des Jahres schlossen wir das letzte Kapitel der Kompositionen abgeschlossen, und jetzt wird die Partitur dazu fertiggestellt. Im Juli nehmen wir alles mit dem Prager Orchester auf, womit die Einspielung der Musik komplett wäre. Dann müssen wir uns gedulden, bis Hansi mit dem Gesang fertig ist, was sich wahrscheinlich bis zum Sommer nächsten Jahres ziehen wird, weil wir jetzt ja wieder Konzerte geben. Ich bin aber guter Dinger, dass wir 2018 mit dem Mix beginnen können. Zwar weiß ich nicht, ob es noch nächstes und nicht Anfang übernächstes Jahr erscheinen wird, aber vorher kommt definitiv kein anderes BLIND-GUARDIAN-Album heraus.

Live-Alben stellen schließen oft eine bestimmte Entwicklungsphase einer Band ab, was bei euch aber wohl nicht der Fall war nach dem, was du gerade erklärt hast.

Nein, es ist einfach eine Standortbestimmung. Wir haben uns naturgemäß weiterentwickelt, denn zwischen diesem und dem letzten Live-Album liegen drei Welttourneen und die erwähnten Besetzungswechsel. Ich finde auch, dass die Songs mittlerweile ganz anders klingen, wozu unsere neuen Mitglieder einen großen Beitrag leisten, und dynamischer sind. Wir sind richtig gut aufeinander eingespielt, haben also in Sachen Performance deutlich zugelegt. Der Zeitpunkt, das zu dokumentieren, war einfach günstig.

Vor allem Hansi ist spätestens im letzten Jahr richtig in seine Rolle als Frontmann hineingewachsen.

Er hat hart an seinem Gesang gearbeitet. Man wird ja nicht jünger, und ein Sänger hat es besonders schwer, sein Niveau zu halten, gerade zum Beispiel gegenüber 20-Jährigen oder so. Hansi hat aber so viel dazugelernt, dass er meiner Meinung nach besser denn je singt, und das ist ein großes Plus für die Band. Wir anderen grooven richtig gut und haben einen hervorragenden Sänger, was will man mehr?

Beyond The Red Mirror” spielte ja auf “Imaginations From The Other Side” an und versetzte nicht wenigen alten Fans einen Kick, den sie bei euch lange nicht erlebt haben. Woran machst du das fest?

Wir hatten nie einen Durchhänger, aber ich verstehe, was du meinst, und den Standpunkt der Fans generell. Wir haben andererseits aber auch mit jedem Album neue dazugewonnen. Die erste Platte, für die wir gehörig Prügel eingesteckt haben, war “Night At The Opera”. Heute hingegen ist es so, dass die Leute ausrasten, wann immer wir einen Song dieses Albums live spielen, den es von uns noch nicht live zu hören gab. Außerdem ist “And Then There Was Silence” zu einem Konzert-Highlight geworden, das euphorisch gefeiert wird, was mir sagt, dass der Zugang zu der Scheibe unheimlich schwer war und wir wahrscheinlich unserer Zeit voraus waren, zumindest aber einen sehr großen Schritt gewagt haben.

“A Twist In The Myth” war dann ein außerordentlich experimentelles Album, auf dem logischerweise nicht alles so aufgegangen ist, wie wir es im Vorfeld geplant hatten, doch man braucht solche Freiräume zum Herumprobieren, sonst erfolgt keine Weiterentwicklung. Ein Stück wie ‘The Ninth Wave’, das auf der gesamten letzten Tour sehr gut ankam und sich als neue Komposition letztlich sogar als Konzerteröffnung etablierte, wäre nie möglich gewesen, wenn wir “A Twist …” nicht gemacht hätten. Genauso würde eine Band, die gerade “Somewhere Far Beyond” oder “Imaginations …” herausgebracht hat, niemals Musik wie jene auf “Beyond The Red Mirror” schreiben. Wir sehen jede Scheibe als Zwischenschritt, und klar gibt es immer wieder solche, auf denen alles optimal zusammenfällt. Im Nachhinein wird auch vieles verständlicher, was sich vorher nicht ganz nachvollziehen ließ. Trotzdem werden wir weiter voranschreiten, selbst wenn wir mit unserem letzten Studioalbum besonders viele Hörer glücklich gemacht haben.

Um auf die magischen Momente zurückzukommen: Die waren doch sicherlich auch visueller Natur …

Sicher, aber das alles für eine Blu-ray zu filmen stand außer Frage. Es waren immerhin 50 Shows, und nur zwei oder drei aufzunehmen wäre auch doof gewesen. Wenn wir etwas machen, dann richtig. Ich würde zum Filmen ein besonderes Event vorziehen, um ein gesamtes Konzert festzuhalten.

Gibt es eigentlich noch unerschlossenes Terrain für euch, was Gigs angeht?

Durchaus. Wir waren noch nie in China oder Indien beziehungsweise Asien generell. In Afrika spielten wir bislang ein einziges Mal, nämlich in Johannesburg. Süd-, Mittel- und Nordamerika wurden schon ziemlich ausführlich abgedeckt, aber diese Kontinente sind so riesig, dass wir noch längst nicht überall gewesen sind. Im Großen und Ganzen freue ich mich immer darauf, Neuland zu betreten, und bin sehr aufgeschlossen, was das betrifft. Allerdings muss man auch stets seriöse Promoter finden, denn zumindest wir können nicht einfach mal so mit unserem ganzen Equipment irgendwo auflaufen, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen. Die Angebote, die wir bislang aus China erhalten haben, waren extrem fadenscheinig, weshalb wir uns nicht darauf einlassen wollten. In einigen Ländern besteht schlicht noch ein Mangel an angemessener Infrastruktur.

Wo ich dich gerade an der Strippe habe. Hört man BLIND GUARDIAN, weiß man beim Einsetzen eines Gitarren-Leads sofort, dass du es spielst. Hast du im Laufe deiner Entwicklung als Musiker bewusst darauf hingearbeitet?

Danke. Ich habe zu Beginn nur versucht, möglichst fehlerfrei zu spielen, wie jeder andere Anfänger auf. Irgendwann kristallisierten sich meine Lieblingsgitarristen heraus – Eddie Van Halen und Michael Schenker. Ich überlegte dann, weshalb sie mir so gut gefielen, und gelangte zu dem Schluss, dass es an ihrem sehr eigenen, charismatischen Sound und einer irgendwie ungewöhnlichen Spielweise liegt. Das gab mir zu denken, also versuchte ich, mich genauso voller Herzblut hineinzuhängen und völlig gehenzulassen. Man muss davon wegkommen, darüber nachzudenken, was man gerade spielt, sondern nur noch den Ton spüren und im Prinzip darin aufgehen. Alles weitere ergibt sich von selbst, denn jeder Instrumentalist greift anders, woraus sich bereits ein besonderer Ton ergibt. Je tiefer man sich auf Melodien einlässt, desto deutlicher sticht die eigene Persönlichkeit hervor. Ich für meinen Teil spiele gern mit Frequenzen herum, weshalb ich oft auf Wah-Wah-Pedale setze. Gerade bei Solos ist dieser Sound zu so etwas wie einem Markenzeichen geworden.

Beachtlich, wenn man bedenkt, dass ihr nicht unbedingt simpel geradlinigen Rock spielt …

Man muss natürlich Leidenschaft mitbringen, und ich habe diese “passion for Metal” halt immer noch. Gerade jetzt, da innerhalb der Band ein so tolles Klima vorherrscht, macht die Musik so viel Spaß wie nie zu vor. Wir verstehen uns hervorragend und gehen immer wieder gern gemeinsam auf die Bühne. Touren ist eigentlich nicht das Angenehmste bei all dem Reisen und der Warterei. Das bringt mehr Stress mit sich, als manche glauben mögen. Wenn man sich einen ganzen Tag lang mit solchem Scheiß herumschlägt, ist man froh, abends auf der Bühne stehen und das genießen kann, worum es eigentlich geht. Angesichts des Herumhängens und Wartens tagsüber wäre es eine Schande, sich einfach nur hinzustellen und seinen Schuh herunterzuspielen. Die Fans merken, dass wir gut drauf sind, und lassen sich davon mitreißen.

So soll’s sein. Wenn man so lange dabei ist wie ihr: lässt man sich da eigentlich noch von aktueller Musik beeinflussen?

Ja und nein. Ich bemühe mich, alles mitzukriegen, was so in der Musikwelt geschieht, und höre mir eine Menge Sachen an, die herauskommen. Indes habe ich nie versucht, Trends nachzueifern, oder mir etwas bei anderen abgeguckt. BLIND GUARDIAN nehmen das, was sie zu Beginn gemacht haben, als Grundlage und bauen fortwährend darauf auf. Dazu brauche ich keine Impulse von außen; das bekommen wir aus eigener Kraft hin. Dennoch versuche ich, klanglich am Puls der Zeit zu bleiben. Spielraum, den Sound nach vorne zu bringen, gibt es immer. Schließlich verändern sich die Hörgewohnheiten ständig. Wenn ich an die Achtziger zurückdenke … Marshall-Verstärker waren damals das Nonplusultra, wohingegen man sie heute allenthalben noch für einen Crunch-Sound taugen, aber nicht für extreme Verzerrungen (lacht).

Andreas Schiffmann (Info)
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