Partner
Services
Statistiken
Wir
Sutcliffe - Warum mich SUTCLIFFE zwar nicht zum Massenmörder, aber beinahe doch zum Verbrecher werden ließen! - 19.10.2012
Ein Gefühl, das sicher nicht viele kennen – vorausgesetzt sie sind nicht gerade Musikkritiker – sieht folgendermaßen aus:
Man hat vor geraumer Zeit gelesen, dass eine Band in Wohnortnähe kommt, von der man schon mal ein Album besprochen und für recht gut befunden hat.
Da könnte man doch mal hingehen.
Einfach so.
Ohne jegliche Verpflichtungen.
Niemand erwartet oder fordert im Vorfeld eine Konzertkritik von einem, sodass man sich auf einen Konzertbesuch freut, den man genüsslich in sich aufnimmt und dann irgendwann wieder vergisst, weil bereits eine Vielzahl anderer Konzerte auf einen warten, die besprochen werden wollen.
So weit – so gut … ein entspannter Musikabend erwartet einen, in dem man seine Musik-Seele baumeln und die Kamera (für die Konzertfotos) sowie den Notizblock (für die Kritik) stecken bzw. zuhause lassen kann!
Nur wer bitte rechnet damit, dass genau an diesem Abend SUTCLIFFE im Dresdner "Blue Note" mit ihrem Konzert mir alle schönen geruhsamen Pläne mit einem lauten Krachen über den Haufen werfen?
SUTCLIFFE?
SUTCLIFFE!
Ja, genau – SUTCLIFFE! Da gab's doch mal so einen Musiker?
Mmmhhh, wo hatte der gespielt?
Ach, natürlich – STUART, der fünfte BEATLE, die neben JOHN LENNON tragischste Figur in der an Tragödien reichen Geschichte der BEATLES!
Und gab's da nicht auch noch einen anderen Sutcliffe?!
Ja!
PETER WILLIAM, der Yorkshire Ripper, ein englischer Serienmörder, der von 1975 bis 1980 mindestens 13 Frauen umbrachte, ein Land in Angst und Schrecken versetzte und nach seiner Verhaftung als Motiv nannte, Gott hätte ihm diese Taten befohlen. Zum Glück sind die modernen Gerichte heutzutage keine Beichtstühle, sonst wäre der Typ vielleicht noch mit ein paar gebeteten Rosenkränzen davongekommen.
Und hier nun kommt SUTCLIFFE Nr. 3 – eine Nürnberger Band, die – so viel soll hier schon mal verraten sein – eine für mich gänzlich neue Konzert-Kunstform auf der Bühne entwickelt, indem sie eine taktgenaue Kombination aus ihrer Instrumentalmusik mit extra dafür zusammengeschnittenen Fimschnipseln kombiniert. Die gigantische Live-Kombination von Klang und Bild, in der man nicht nur riesige Ohren, sondern mindestens genauso riesige Augen bekommt!
Und genau dieses „neue“ Konzerterlebnis ließ mir keine Ruhe mehr. Ich verfluchte mich dafür, die Kamera zuhause gelassen zu haben, noch nicht mal mein Foto-Handy hatte ich dabei. Es sollte schließlich ein entspannter Musik-Abend werden.
Nun aber war es für mich eine Tortur.
Denn ich wusste, solch ein Konzert darf nicht einfach ohne Kritik bleiben. Irgendwie muss man es für die Nachwelt erhalten und darum muss ich meinem Musik-Gewissen folgen und darüber schreiben. Wobei ich vorab schon mal für das Bild danken will, dass mir ein gleichfalls begeisterter Zuschauer zur Verfügung stellte.
Allerdings sollte man im Vorfeld wissen, dass dieses „Blue Note“ eine wunderbare, sehr kleine Musik-Kneipe ist, die sich mitten in der Dresdener Neustadt dadurch einen Namen in der Musik-Szene gemacht hat, dass alle Bands, die dort auftreten, auf außergewöhnlich hohem Niveau spielen, auch wenn sie nur einen recht geringen Bekanntheitsgrad besitzen. Top-Seller können dort im Grunde gar nicht auftreten, denn die recht kleine Bühne ist direkt in die Lokalität integriert. Der Zuhörer ist mitten drin im Konzertgeschehen und könnte sogar einem Gitarristen nach 'nem beeindruckenden Gitarren-Solo anerkennend auf die Schulter klopfen.
Und ein zweiter Fakt ist sehr wichtig.
Diejenigen, die das „Blue Note“ erobern, wissen, was sie dort erwartet: definitiv gute Musik mit riesigem Überraschungseffekt.
Hier wird in erster Linie zugehört – nicht gesoffen und gequatscht – sondern gehört!
Spätestens, nachdem Sutcliffe die Bühne erklommen und mit „Colophonium“, dem ersten Song ihres neusten Albums „III“, das am 26. Oktober erscheint, ihr Konzert eröffneten, ist dem Hörer klar, was hier passiert. Nehmt CALEXICO die Trompeten und die Gesangsmikrophone weg und räumt einer Pedal Steel mehr Platz ein, schon wisst ihr, was euch live bei Sutcliffe erwartet.
Ein andauerndes Wechselspiel der Instrumente – hier stehen ja nur (!!!) fünf Musiker auf den Brettern, die die Welt bedeuten und die nicht so ohne Weiteres an die 15 Instrumente, die ebenfalls die immer winziger wirkende Bühne bevölkern, auf einmal spielen können.
Kontra-Bass gegen elektrische Bassgitarren (JOE BRUGGER)!
E-Gitarren gegen akustische Gitarre (HERR HOFER)!
Akkordeon gegen Keyboards (MEL ALBRECHT)!
Pedal-Steal gegen weitere Gitarren (JUPP COLT)!
Nur der Mann hinterm Schlagzeug (ALBI ALBRECHT) kann dieses musikalische „Bäumchen wechsle dich Spiel“ relativ entspannt von seinem Hocker hinterm aufgetürmten Schlagzeug aus beobachten.
Und ich weiß, wovon ich schreibe, denn auch Calexico habe ich schon live gesehen – und muss zugeben, dass mich Sutcliffe noch mehr gefangen nehmen. Das liegt besonders an dieser „neuen Kunstform“ - die visuelle Unterstützung jedes einzelnen Songs mit einem Film, der auf Animationen, wie wir sie aus PINK FLOYDs „The Wall“-Film kennen, auf alte Western-Filme oder sogar Phantomas, auf Natur- und Weltall-Impressionen, auf Unterwasseraufnahmen, Zeichentrickfilme, Gruselfilme, Kriminalfilme, Landschafts- und Dokumentaraufnahmen sowie zutiefst bedrückende Kriegsbilder zurückgreift.
Doch diese Filme laufen nicht im Hintergrund. Nein, sie sind taktgenau und minutiös auf die Musik, die da ihre ganze Live-Vielfalt auf der Bühne verbreitet, abgestimmt. Wenn das Schlagzeug „explodiert“, dann explodieren genauso die Bilder, wenn die Musik den Rhythmus wechselt, dann passt sich jeder Film-Mitschnitt genau diesem Rhythmus an, so als hätte man jedes einzelne Instrument mit einem Videoprojektor verbunden. So vielstimmig wie diese Bilder ist auch die Musik – Rock, Folklore, Country, Pop, Jazz, Funk, Tango, Soul. Eine bunte Mischung, mal verträumt klingend, während Vögel am Himmelszelt oder Fische und Korallen im Ozean ihre Bahnen ziehen, aber auch aggressiv, mit wilden Reitszenen, Animationen oder verrückten Film-Collagen oder voller Tango-Rhythmen, während ein Zeichentrick-Paar passgenau zur Musik seinen Tango tanzt, untermalt.
Der bedrückendste Moment des Konzerts entsteht bei „Pussy Riot“, ebenfalls ein Song vom neusten Album. Hier laufen rhythmisch Kriegs- und Verfolgungsbilder über die Leinwand, deren visuelle Aussagekraft einem den Atem stocken lässt. Dazu die Musik, die (An-)Klage erhebt mit treibenden Gitarren, krautrockigen Soundspielereien und einer Gitarre, die mit einem bedrückenden Solo dem Ganzen ihren Stempel aufdrückt, so als müsste sie ihre Botschaft in die weite Welt hinaustragen, wo sie vom terroristischen Donnerhall zum Schweigen gebracht werden soll.
Sutcliffe gelingt genau das, was schier unmöglich erscheint.
Sie ziehen einen von der ersten bis zur letzten Konzertminute in ihren Bann und auch ohne intensiver darüber nachzudenken, wird mir klar, warum ihre erste, leider längst vergriffene EP den Titel „Kopfkino“ trägt. Genau das läuft gerade vor meinen Augen und Ohren ab – ich erhöhe ihn also, diesen musikalischen Jackpot: nicht nur ein Kopf-, sondern zugleich ein Ohren-Kino lässt uns kaum eine Chance, dem unglaublichen Charme dieser Nürnberger Band zu entfliehen. Das tobende, wild applaudierende Publikum im Blue Note ist der beste Beweis dafür!
Diese Musik – diese Band – dieses Konzert ….. hat mich unfreiwillig beinahe zum Zechpreller werden lassen. Das wird mir plötzlich bewusst, auf meinem Motorrad auf dem Weg nachhause. Ich habe tatsächlich alles vergessen an diesem Konzertabend, sogar das Bezahlen meiner alkoholfreien Biere und der Espressos, die meine Begleiterin Silvia und ich genossen hatten und die uns alles andere irgendwie vergessen ließ. Aufgeschreckt und voller Schuldgefühle stoppe ich die Maschine, setze meinen Helm ab, damit die Gedanken sich etwas freier entfalten können. Ich Idiot, wie konnte ich das nur vergessen. Noch nie in meinem Leben ist mir so etwas passiert!
Dann wende ich auf der stockdunklen Straße und fahre zurück, durch einen nächtlichen Film von Bäumen, die seitlich an einem vorbei fliegen und hinter denen große Gefahren lauern können.
Einen Film von unterbrochenen und geschlossenen Mittel- und Randstreifen, die mir mit ihrem grellen Weiß im Lichtkegel den Weg weisen, während mich die seitlich aufgestellten, noch greller leuchtenden Verkehrsschilder gemahnen, auch ja alle Verkehrsregeln einzuhalten. Sich an die Gesetze zu halten.
Vielleicht hätte auch der Wirt vom „Blue Note“ am Ausgang unbedingt ein Schild aufstellen sollen: „Bitte vergessen Sie nach diesem Konzerterlebnis auf keinen Fall Ihre Rechnung zu bezahlen!!!“
Einen Film von Herbstblättern, die mir entgegenflattern und ans Helm-Visier schlagen, wie angeschossene Vögel im tödlichen Sinkflug oder diese vielen anderen gefiederten Zeitgenossen, die auf ihrem Flug durch die Häuserzeilen nicht erkennen, dass ein Fenster aus Glas besteht, das man nicht sieht und so zur tödlichen Falle für sie wird.
Dann komme ich endlich an, nachdem ich erneut die Lichter der Dresdner Großstadt durchquert habe – direkt im „Blue Note“.
Schuldbewusst reiße ich die Tür auf und der leidenschaftliche Musikwirt lacht mich nur an, während ich mich entschuldige und die noch offene Rechnung bezahle.
Ja – er kann mich verstehen, dieser Mann hinter dem Tresen mit dem offensichtlich anspruchsvollen Musikgeschmack. Denn er war ja schließlich genauso wie ich live dabei. Bei einem Konzert von SUTCLIFFE, das in seiner Unvergesslichkeit einen ganz schnell mal alles Andere vergessen lassen kann, sogar das Bezahlen seiner Rechnung.
Und so sind am Ende SUTCLIFFE Schuld daran, dass mein Leben beinahe ein unfreiwilliges kriminelles Kapitel geschrieben hätte, auch wenn das noch um Längen von einem Serienmörder entfernt ist!
Vielen Dank SUTCLIFFE – das wäre es wirklich wert gewesen!