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Fire! Orchestra: Enter (Review)

Artist:

Fire! Orchestra

Fire! Orchestra: Enter
Album:

Enter

Medium: CD
Stil:

Free Jazz

Label: Rune Grammofon
Spieldauer: 54:32
Erschienen: 27.06.2014
Website: [Link]

Bei Schusswunden folgt dem Eintritt gemeinhin der Austritt, mit dem Leben verhält es sich genauso. Nur FIRE! ORCHESTRA liefern erst das „Exit“ und dann das „Enter“. Hier ist eben alles ein bisschen anders.
Sage und schreibe 28 Akteure sind an dem neuen Werk des Saxophonisten Mats Gustafsson beteiligt (beim Vorgänger waren es noch zwei weniger). Wer jetzt reines Chaos erwartet, hat „Exit“ damals nicht oder nur mit halbem Ohr gehört – es ist schlichtweg faszinierend, wie reduziert, geradewegs minimalistisch Gustafsson seine Mitspieler dirigiert, die über weite Strecken gar nicht erst zu hören sind, bevor sie in einem Vulkanausbruch alle Reserven in die Waagschale werfen und den Free Jazz wörtlich nehmen.

„Exit“ brauchte lediglich drei Noten in Dauerschleife, um zu hypnotisieren, und auch „Enter“ begnügt sich mit einem schlichten, aber umso wirkungsvolleren Motiv, das in ansteigender Intensität in den Loop verwiesen wird. Nichts als Martin Hederos Fender Rhodes pirscht voran, wie vorangehender, jenseitiger Schall dient er dem Hörer als Vorbote auf eine große Melodie, die ihn alsbald wie eine mächtige Flutwelle überrollen wird, ganz physisch und direkt. Das Motiv wird auf „Part Four“ des vierteiligen Albums wieder zurückkehren und garantiert einen Ohrwurm hinterlassen, doch wird das eigene Nachpfeifen der Melodie unter der Dusche im direkten Vergleich erbärmlich wirken, bedenkt man, welche Tricks das 28-Tett aus seinen 56 Ärmeln zaubert, um die simple Notenfolge zu einer pompösen Jazz-Fanfare aufzubauen.

Ein herausragendes Merkmal des FIRE! ORCHESTRA ist auch diesmal wieder der Gesang. Dadaistische Klangblasen verlassen die Kehlen von Mariam Wallentin, Sofia Jernberg und Simon Ohlsson, dem souligen Kern entfleuchen mitunter animalische, zutiefst avantgardistische Stimmexperimente, die mancher kaum mehr als Gesang bezeichnen möchte, denn das Trio geht an einigen Stellen so weit, dass es durch Stotter-, Falsett- und Grunzlaute rein perkussive Absichten verfolgt. Das Ergebnis ist nicht unähnlich dessen, was BJÖRK auf „Medúlla“ ausprobiert hat. Im Klimax von „Part One“ beispielsweise wird mit dermaßen hoher Stimmlage gekreischt, dass der Gesang kaum mehr von den zeitgleich gespielten Saxophon-Flageoletts zu unterscheiden ist.

Mit diesen Mitteln erreicht Gustaffson eine Stimmung wie beim Giallo: Ruhige, regelmäßige Abläufe werden von schrillen Zwischenfällen durchschnitten. In diesen Momenten benötigt der Dirigent dann auch seinen 28-PS-Motor, den er beizeiten immer wieder gerne aufheulen lässt, wobei er selbstverständlich auch vor dissonanten Sax-Läufen nicht zurückschreckt, die sich – der Jazzfreund sieht gerade darin die Harmonie – enorm mit den mechanischen Drum-Samples und repetitiven Gitarrenläufen beißt, wobei letztere regelmäßig in Rückkopplungs-Wurmlöchern versanden. Trompeten und Trombone sorgen im zweiten Abschnitt von „Part Two“ für New-Orleans-Flair; „Part Three“ legt dann nochmal ein paar Experimental-Briketts aufs Feuer. Die hier stattfindenden Stimmübungen mögen böse Geister als Begleiterscheinungen besonders anstrengender Toiletten-Peristaltik interpretieren, Tatsache ist aber: Bei aller Exaltiertheit wirkt all das vergleichsweise natürlich bzw. unaufgesetzt, auch wenn der gemeine Radiomusikhörer hier wohl widersprechen würde.

FAZIT: Enter the World of FIRE! ORCHESTRA, dort, wo Anfang und Ende die Plätze getauscht haben und Ausrufezeichen nicht am Ende einer Aussage stehen, sondern irgendwo dazwischen. Der Typografie des Namens folgend, schmuggeln sich jene Ausrufezeichen in Form plötzlicher „Jazzplosionen“ gerne mal als Erschrecker mitten in die gemütlichen Kompositionen. Ein Eimer kaltes Wasser trifft den Langschläfer auch nicht mit mehr Effet. So entstand eine Platte, die relaxt ist und doch dynamisch, hysterisch und doch nicht überladen, motivisch simpel und komplex in der Umsetzung. Eine enorme Mannschaftsleistung.

Sascha Ganser (Info) (Review 9782x gelesen, veröffentlicht am )

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Wertung: 12 von 15 Punkten [?]
12 Punkte
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Tracklist:
  • Enter Part One
  • Enter Part Two
  • Enter Part Three
  • Enter Part Four

Besetzung:

Alle Reviews dieser Band:

  • Enter (2014) - 12/15 Punkten
Interviews:
  • keine Interviews
Kommentare
Harry
gepostet am: 15.10.2014

User-Wertung:
10 Punkte

Das was Sascha als New Orleans Flair bezeichnet ist stark an Kip Hanrahan angelehnt.
Also nichts wirklich neues.
Dem Ohrwurm stimme ich zu.
Part 4 ist klase.
Der Rest ist mal wieder dem Jazzer zu rockig und dem Rocker zu jazzig.
Ausserdem klingt es halt ab und an nach, schon mal irgendwo gehört.
Portishead am Anfang von Part one.
irgendwo gibt es ähnlichkeiten mit tomorrow neuer knows von den Beatles und sehr viel Kip Hanrahan.
Trotzdem gefällt mir das meiste.
Ist halt gut zusammen gemischt und trotz free Jazz Einlagen hörbar. Bewertung von Part four 13/15
Gesamt siehe unten.
Benji
gepostet am: 18.10.2014

User-Wertung:
14 Punkte

Ganz, ganz groß! Gute Review, hört sich aber mehr nach einer 13er, als einer 12er von 15er Bewertung an. Ich finde das ganze genial und bewerte demnach mit 14 Punkten. Ich finde es übrigens weder zu rockig, noch zu jazzig und ich komme aus dem Rockbereich, aber ich gebe Harry recht, manchen wird es sicher so gehen.
(-1 bedeutet, ich gebe keine Wertung ab)
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