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Tocotronic: Golden Years (Review)
Artist: | Tocotronic |
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Album: | Golden Years |
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Medium: | CD/LP/Download | |
Stil: | Deutsch-Pop, Folkrock, Indie-Rock, Singer/Songwriter-Pop |
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Label: | Epic Records/Sony | |
Spieldauer: | 42:10 | |
Erschienen: | 14.02.2025 | |
Website: | [Link] |
Vor drei Jahren, es war Ende Januar 2022, brachten TOCOTRONIC ihr 13. Album "Nie wieder Krieg" heraus. "NIE WIEDER KRIEG". Was wenige Wochen später in der Ukraine geschah, erschüttert die Welt bis heute - das Gegenteil des durch ein Käthe-Kollwitz-Plakat von 1924 ikonisch gewordenen Friedens-Mottos. Man kann nur hoffen, dass die drei Veteranen der "Hamburger Schule" (die längst in Berlin leben) diesmal treffsicherer sind mit ihrer Prognose. Dass es mit "Golden Years" als Zukunftsaussicht besser funktionierte. Obwohl man da schon Zweifel haben darf angesichts der tristen Realität. Es ist also bestimmt ein gehöriges Maß an Sarkasmus im Spiel bei dem aktuellen Plattentitel, der von den Wort-Akrobaten TOCOTRONIC bewusst vieldeutig gewählt wurde.
Der Gegenwart, mit dem scheinbar unaufhaltsamen Erstarken von Rechtspopulismus und skrupelloser Menschenfeindlichkeit, hatten Dirk von Lowtzow (Gesang/Gitarre), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) im Spätherbst eine Vorab-Single gewidmet, die nun auch auf "Golden Years" vertreten ist. "Denn sie wissen, was sie tun" nimmt sich des traurigen Zeitgeist-Phänomens ähnlich unverblümt an wie ein paar Jahre zuvor Danger Dan mit "Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt".
"Darum muss man sie bekämpfen, denn es werden immer mehr/darum muss man sie bekämpfen, denn sie werden zahlreicher/darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt/wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt", heißt es im Refrain. Okay, konnte wohl jeder gute Demokrat zu den ersten drei Zeilen noch sagen - aber "auf die Münder küssen"? Sanftheit als Mittel gegen Rechts? "Nein, das Gegenteil ist der Fall", erklärt Dirk von Lowtzow im "Musikreviews"-Interview. "Dies ist eigentlich ein drastisches Bild. Der Kuss führt ja in diesem Fall dazu, dass das Gegenüber abgemurkst wird, indem man ihm die Luft zum Atmen nimmt." Gemeint ist demnach eher ein Todeskuss. Also ein typisches TOCOTRONIC-Ding, eine "doppelsinnige Qualität" von Worten, wie diese Band sie schon immer mochte.
Andere Lieder von "Golden Years" sind weniger politisch (eigentlich ist "Denn sie wissen, was sie tun" der einzige echte Protestsong des Albums), aber nicht weniger geheimnisvoll. So geht es gleich im Opener "Der Tod ist nur ein Traum", von Lowtzow wunderbar baritonweich gesungen, um die letzten Dinge. Oder doch nicht? Mit der Textzeile "Du kannst mir fast vertrau'n" hat der Songwriter auch hier, mit "fast", einen Stolperstein eingebaut, "eine Sprengfalle gegen Kitsch", wie er im Interview lachend sagt. Wie auch immer: So ein Lied über den Tod können auf Deutsch wohl nur TOCOTRONIC schreiben.
Während "Bleib am Leben" anschließend ein schön geradeaus laufender, leicht punkiger Power-Pop-Song ist, biegen TOCOTRONIC im Titelsong auf einen bisher so von ihnen noch nicht gekannten Americana-Seitenweg ab. Fast im Country-Modus geht's um Zugfahrten, vorbei an der (in Wirklichkeit gar nicht existierenden) "Freilichtbühne Recklinghausen/wo die öden Winde weh'n" und dann "über Göttingen zum Glück". Eine Art surrealistisches Road-Movie, bei dem sich Lowtzow auch ein bisschen dankbar für sein Leben als tourender Musiker zeigt ("Wenn man den Leuten noch begegnet/nicht nur als Klick auf Spotify").
Nach der mit Brit- und Sophisticated-Pop flirtenden Platte "Die Unendlichkeit" von 2018 ist es also diesmal ein von Wilco/Jeff Tweedy oder Neil Young informierter Folkrock, der sich in weiträumigen Melodien und Feedback-Eruptionen äußert (der langjährige TOCOTRONIC-Gitarrist Rick McPhail wird nach seinem freiwilligen Ausstieg vermisst werden). Das Slacker-Stück "Mein unfreiwillig asoziales Jahr", "Wie ich mir selbst entkam" und "Der Seher" lassen E-Gitarren und Drums prachtvoll dröhnen und poltern, "Niedrig" gibt sogar Maultrommel und Melodica hinzu wie in einem Western-Soundtrack. Der Text von "Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song" geht auf Tweedys Buch "Wie schreibe ich einen Song" zurück, das Lowtzow "sehr berührt" hat.
Dass TOCOTRONIC die Kunst von Slogans, die sich auf T-Shirts drucken lassen, weiterhin beherrschen, beweisen "Vergiss die Finsternis" oder "Bye bye Berlin". Den Hörer erneut ins Grübeln bringt "Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal": Ist es David Bowie, der Anfang der 70er-Jahre bekanntlich als Kunstfigur "Ziggy Stardust" dahinschied und dann später fast nochmal durch Drogen, ehe er ab 1976 ausgerechnet in Berlin zum guten, gesunden Leben zurückfand? Der britische Pop-Großmeister hat im übrigen auch ein Lied namens "Golden Years" geschrieben - klingelt's? Andererseits sagt Dirk von Lowtzow: "Ich hab Bowie immer total bewundert, aber: Man soll ihn nicht imitieren, das geht meistens schief."
Zugänglich und abwechslungsreich, teilweise ironisch, dann wieder tröstlich ist "Golden Years" geworden. Der Begriff "Hamburger Schule" für diese Musik gehört daher wohl wirklich bald mal in die Mottenkiste der Kritiker-Phrasen, oberlehrerhaft und oberschlau ist die neue Platte nicht. Wobei TOCOTRONIC längst entspannt mit ihrer Vergangenheit umgehen: "Inzwischen finden wir es eher lustig. Ich kann es wertschätzen, zu dieser ganz besonderen Szene gehört zu haben", sagt Drummer Arne Zank im Gespräch. Und Dirk von Lowtzow meint: "Das ist ja nichts, weswegen man sich schämen muss. Diese Hamburger Schule, der Diskurs-Pop, das Spiel mit Zitaten, all das wird halt hier sehr oft als irgendwie intellektuell gelesen, dabei ist das Ganze sehr viel spielerischer gewesen."
FAZIT: Wie eigentlich gewohnt von TOCOTRONIC, gibt's auch auf ihrem 14. Studioalbum in 30 Jahren keinen einzigen schwachen Song (okay, vielleicht auch keinen neuen Band-Klassiker). Nennen wir es also einfach eine hervorragende Deutschpop-Platte, die die drei mit "Golden Years" gemacht haben. Keine kleine Leistung.
- 1-3 Punkte: Grottenschlecht - Finger weg
- 4-6 Punkte: Streckenweise anhörbar, Kaufempfehlung nur für eingefleischte Fans
- 7-9 Punkte: Einige Lichtblicke, eher überdurchschnittlich, das gewisse Etwas fehlt
- 10-12 Punkte: Wirklich gutes Album, es gibt keine großen Kritikpunkte
- 13-14 Punkte: Einmalig gutes Album mit Zeug zum Klassiker, ragt deutlich aus der Masse
- 15 Punkte: Absolutes Meisterwerk - so was gibt´s höchstens einmal im Jahr
- Der Tod ist nur ein Traum
- Bleib am Leben
- Golden Years
- Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal
- Denn sie wissen, was sie tun
- Mein unfreiwillig asoziales Jahr
- Niedrig
- Vergiss die Finsternis
- Wie ich mir selbst entkam
- Bye bye Berlin
- Der Seher
- Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song
- Bass - Jan Müller
- Gesang - Dirk von Lowtzow, Stella Sommer
- Gitarre - Dirk von Lowtzow, Rick McPhail
- Keys - Friedrich Paravicini
- Schlagzeug - Arne Zank
- Sonstige - Harlem Davidson (Trompete), Moses Schneider (Melodica)
- Das rote Album (2015) - 13/15 Punkten
- Golden Years (2025) - 13/15 Punkten
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