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Die Ärzte: Hell (Review)

Artist:

Die Ärzte

Die Ärzte: Hell
Album:

Hell

Medium: CD/LP/Download
Stil:

Deutscher Punk Rock / Pop

Label: Hot Action Records
Spieldauer: 60:07
Erschienen: 23.10.2020
Website: [Link]

Wieder ein neuer Deutschkurs mit den Ärzten. 27 Jahre ist es nun her, dass mit „Schrei Nach Liebe“ vom Re-Union Album „Die Bestie In Menschengestalt“ subtil der kollektive Auftrag an die HörerInnen der Band erging, sich bloß über die Bedeutung des Wortes Attitüde klar zu werden, denn wer wollte schon mit den minderbemittelten Faschisten, denen die Band im Song vorwirft, nicht zu wissen „was Attitüde heißt“, in einen Topf geworfen zu werden?

Im Jahr 2020 werden noch ganz andere Vokabeln in den Fokus der Öffentlichkeit gezerrt. War es damals ein Wort, das im Zusammenhang des Textes mit bestimmter Intention eingesetzt worden ist, gibt es auf „Hell“ - dem ersten musikalischen Lebenszeichen der ÄRZTE seit acht Jahren - nun Deutschunterricht für Fortgeschrittene um seiner selbst willen. Hendiadyoin als Reim auf freuen im etwas merkwürdig-behäbigem Opener „E.V.J.M.F“ im Autotune-Kostüm ist keinesfalls zwingend erforderlich, um den Flow des Textes und seine Bedeutung zu unterstützen, dient aber vortrefflich als Showcase des eigenen Selbstverständnisses der Mannschaft um Farin Urlaub, Bela B und Rodrigo González und wird mit dem Vers „das wird die Germanisten freuen“ augenzwinkernd verdeutlicht.

Waren einige frühe Gehversuche der Band nach Ansicht der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien verlottert genug, eine Indizierung zu rechtfertigen („Geschwisterliebe“, „Claudia hat ´nen Schäferhund“), sind DIE ÄRZTE mittlerweile im Mainstream angekommen und eröffneten jüngst sogar die ARD Tagesthemen und nachdem man über die aktuelle Krisensituation der Veranstaltungswirtschaft befragt worden war, blieb sogar noch Zeit, den neuen Longplayer zu promoten. Die Reaktionen im Netz waren daraufhin gespalten und zeugten von teilweise völliger Ahnungslosigkeit, denn ein ÄRZTE-Album nach acht Jahren Wartezeit der Fangemeinde ist ein Selbstläufer, der wenig bis keine Promotion braucht.

Aber weiter im Text. „Plan B“ ist eine kurze Bedienungsanleitung, wie man es zum Rockstar und Publikumsmagneten schafft. Das dominierende Gitarrenriff ist BILLY IDOLs „Dancing With Myself“ nachempfunden, das dem Ganzen Track eine erfrischend punkige Note verleiht. Ein Geniestreich, der den eigenen Lebenslauf als „Sackgasse der Evolution“ bezeichnet, jedwede Vorbildfunktion von sich weist und als Fazit des Tracks die Maxime vorgibt, sich nur auf das Heute zu konzentrieren, da morgen ein neuer Tag ansteht. Wenn man schon denkt, dass dieser Text ohne Unterrichtsinhalt auskommt, ziehen DIE ÄRZTE mit jeunesse dorée, das hier auf Odyssee gereimt wird, erneut ein Bonbon aus dem Ärmel.

Und es geht munter weiter. „Achtung Bielefeld“ (warum eigentlich Bielefeld?) ist eine launige Hymne auf den Müßiggang, der im Hinblick auf den Weltfrieden zur Perfektion gebracht werden soll. Neben der erneut erstaunlichen Reimkunst (I have a dream – longwhile extreme) aus der Kategorie „reim dich oder ich fress dich“ bleibt neben aller Beschwingtheit ein ernster Beigeschmack, denn DIE ÄRZTE schlagen hier den Bogen zu einer Mutter in Aleppo, die „sich auch mal ganz gern langweilen würde“.

„Warum spricht niemand über Gitarristen?“ rechnet mit der Oberflächlichkeit der öffentlichen Wahrnehmung ab, die sich auf Belanglosigkeiten konzentriert, während das wichtige Tagesgeschehen unter ferner liefen abgespeichert wird – wenn überhaupt. Der Song startet mit hoppelndem Punk-Beat, entwickelt sich im weiteren Verlauf jedoch zu einem vielseitigen Epos mit flirrenden Gitarrensoli und witzigem Mittelteil, der den Song vollständig aufbricht, BRIAN MAY Gitarrensound inklusive.

Kaum sind die letzten süßlich-schönen Töne des Tracks verklungen, folgt mit „Morgens Pauken“ die gnadenlose Aufarbeitung der ÄRZTE mit einer Entwicklung, die der Band eben noch den Weg in die Tagesthemen geebnet hat, Stichwort: „Alles ist Punk“. Sid (Vicious) hätte sich damals sicher nicht vorstellen können, dass sein Underground-Genre sich eines fernen Tages einmal als Massenbewegung entpuppen könnte. Sogar ROLAND KAISER und (s)eine „Punker Maria“ werden neben Zander, Frank, dem Schokoladenpunk und dem Punk-Gourmet witzig verwurstet. Womit auch klar wird, dass sich DIE ÄRZTE durchaus der Tatsache bewusst sind, dass ihre Musik und die Attitüde dahinter nur noch marginal mit den SEX PISTOLS und den Triebfedern der rotzfrechen Genrepioniere zu tun hat.

Im Anschluss folgt mit „Das letzte Lied des Sommers“ eine Art „Westerland“-Reprise, bevor mit „Clown aus dem Hospiz“ eine Hymne auf Künstler erklingt, deren Kreativität an Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit gebunden ist, Stichwort „the poet needs the pain“, ein Zustand, der „pure Schönheit und dunkle Fantasien“ gebiert, während eine Komfortzone für besagte Clowns schier unerträglich ist.

Das nur musikalisch launige „Ich, am Strand“ mit Reggae-Chorus und seiner im Zeitraffer geschilderten Präsentation des Familienalbums eines BWL-Studenten, der letztendlich unter der Brücke landet, um am Ende zu besagten Reggae-Klängen vor seinem Ableben sein verbasteltes Leben an sich vorbeiziehen zu sehen, ist typisch für die Band, die es immer wieder schafft, ernste Themen in fluffige Popsongs zu verpacken, deren Tiefgründigkeit sich erst nach mehrmaligen Hinhören erschließt, was dem gemeinen Radiokonsumenten durch ein eventuelles Fade-Out der Pointe des Tracks vorenthalten werden könnte.

Warum es „True Romance“ zur Singleauskopplung geschafft hat, bleibt wohl auf ewig das Geheimnis der Plattenfirma, es gibt mindestens 10 passendere Nummern, die dann allerdings nicht von Siri und Alexa gehandelt hätten und schnurstracks an der werberelevanten Zielgruppe vorbei gegangen wären. Auch „Einmal ein Bier“ kann nicht unbedingt restlos überzeugen, zu dünn ist das Stückchen Säuferfantasie konzipiert und die Vorstellung, einmal selbst als Bier im Glas zu landen kann allenfalls im Vollrausch Spaß bereiten.

Glücklicherweise nimmt die Platte nach diesen beiden Durchhängern wieder Fahrt auf und versöhnt mit „Wer verliert, hat schon verloren“, „Polyester“ und „Fexxo Cigol“ - letzterer als Blaupause, wie man mit Verschwörungstheorien und deren Initiatoren umgehen sollte („Ich nehme einmal Fettuccine Adrenochrom“) - für die vorher verschenkten Minuten Lebenszeit. „Liebe gegen Rechts“ nimmt das Motiv des ÄRZTE – Hits „Schrei nach Liebe“ nochmals auf und preist die Liebe als Heilmittel gegen das wieder aufkeimende rechtsradikale Gedankengut. Wenn es nur so einfach wäre.

Das anschließende „Alle auf Brille“ ist eine ungenießbare Punk-Persiflage, für deren unmotiviert und wenig originell eingestreute Oi-Laute sich die Jungs von COCKNEY REJECTS auf offener Bühne gegenseitig geohrfeigt hätten. Versöhnliches dann zum Abschluss der gut sechzig minütigen Werkschau. „Thor“ als wirklicher Punkrocker, die Ballade „Leben vor dem Tod“ und „Woodburger“, in dem die Band die schwule Unterwanderung der AfD als Mittel zur Zerstörung der Populisten anpreist, bilden den würdigen Abschluss eines bärenstarken Albums.

FAZIT: In acht Jahren hat sich bei den ÄRZTEN offensichtlich eine Menge Material angesammelt, so dass sich der Druck des kreativen Kessels mit „Hell“ krachend entladen musste. Neben ein paar Minuten Füllmaterial, das bei Nichtberücksichtigung die beste Tracklist in der Bandhistorie generiert hätte, gibt es brillante Nummern, die zum besten Material der ÄRZTE überhaupt gehören. Ein Mega-Album, auf dem es nicht nur für Germanisten eine Menge zu entdecken gibt.

Stefan Haarmann - Stellv. Chefredakteur (Info) (Review 5600x gelesen, veröffentlicht am )

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Tracklist:
  • E.V.J.M.F.
  • Plan B*
  • Achtung: Bielefeld
  • Warum spricht niemand über Gitarristen?*
  • Morgens Pauken*
  • Das letzte Lied des Sommers*
  • Clown aus dem Hospiz
  • Ich, am Strand*
  • True Romance
  • Einmal ein Bier
  • Wer verliert, hat schon verloren*
  • Polyester
  • Fexxo Cigol
  • Liebe gegen Rechts
  • Alle auf Brille
  • Thor*
  • Leben vor dem Tod
  • Woodburger
  • *Anspieltipp

Besetzung:

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  • keine Interviews
Kommentare
Andreas
gepostet am: 02.11.2020

Gute Rezension. Das beste Album von Die Ärzte seit Ewigkeiten.
"Punker Maria" ist übrigens von Didi Hallervorden. ;)
(-1 bedeutet, ich gebe keine Wertung ab)
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