In der Nacht zum 25. März erlag Noel Scott Engel, besser bekannt als Scott Walker, 76jährig einem Krebsleiden. Sein Tod beraubt uns um einen der innovativsten, kreativsten musikalischen Geister der letzten sechzig Jahre.
Seine Karriere begann bereits 1957, als der 14-jährige unter dem Namen Scotty Engel zum Teenie-Star aufgebaut werden sollte. Kleinere Hits sprangen zwar raus („When Is a Boy a Man“), doch es sollte noch bis 1965 dauern, ehe sich größere Erfolge einstellten. Zumindest in England und dem restlichen Europa, während der Prophet im eigenen Land, den USA, wie so oft wenig galt. Auf der Kompilation „Looking Back with Scott Walker“ kann man den Sänger mit gefälliger 50er-Jahre-Musik und fast glockenheller Stimme hören. Gerade gemessen an den sperrigen Avantgarde-Werken der letzten Jahrzehnte ein höchst eigenwilliges Vergnügen.
Mit dunklerem Timbre und unter dem Signet THE WALKER BROTHERS – die natürlich keine leiblichen Brüder waren – sang Walker „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“, den größten Hit des Trios ein, das zeitweise sogar als ernstzunehmende Konkurrenz für die BEATLES gehandelt wurde. Das hymnische Sonnenlied war eigentlich eine Ode an die Dunkelheit. Teenage Angst als existentialistischer Zustand, charmant und vermeintlich fröhlich vorgetragen.
Ging ein paar Jahre gut, doch bereits das 1967er Album „Images“ war eine Produktion dreier Individualisten, die noch einmal vorgaben, ein Team zu sein. Wenig später trennten sich die Wege von Scott Engel, John Maus und Gary Leeds – vorerst.
Unter Beibehaltung seines Alias Scott Walker spielte der Musiker zwischen 1967 - 69 erfolgreiche Solo-Alben ein. Die sich nicht so sehr an der aktuellen Pop- und Rockmusik orientierten, sondern an der europäischen Chanson- und Jazz-Tradition. Insbesondere Jaques Brel spielt eine wichtige Rolle für Walker. Er interpretiert dessen Songs höchst eigenständig und eindrucksvoll. Leider geriet sein politisch und philosophisch ambitioniertes, exzellentes viertes Album zum veritablen Flop. Hier passierte, was kennzeichnend werden sollte für Walkers kommenden Lebensweg: Von Kritikern und Musikerkollegen hochgelobt und -geschätzt, blieb die, ausschließlich aus Eigenkompositionen bestehende, Platte in den Regalen liegen. Sie hat die Zeit phänomenal überdauert und dürfte eines der herausragenden orchestralen Werke der ausgehenden Sechziger sein. Zeitlos gut – und damit dem ersterbenden Jahrzehnt vorausgeeilt.
Danach folgten wieder Alben mit Coverversionen, mit denen Walker aber nicht an alte Erfolge anknüpfen konnte. 1975 erfolgte die Reunion der WALKER BROTHERS. „No Regrets“ (1975) und „Lines“ (1976) sind solide Softrock-Alben mit Ausritten über den Tellerrand, feinen Vokalharmonien und kleinen Highlights. Doch erst 1978 liefen die reformierten „Brüder, die keine waren“ zur Hochform auf. „Nite Flights“ ist ein dunkles, faszinierendes Juwel, ein meisterliches Werk zum krönenden Abschluss, das nach abstinenten Jahren wieder Sott Walker-Eigenkompositionen aufwies. Kommerziell blieb der Erfolg aber erneut aus. Und sei es nur als Impulsgeber, die „Nite Flights“ sind nicht zu unterschätzen. Immer wieder eine nachtschwarze Freude, die Platte aufzulegen. David Bowie, ein weiterer Scott Walker-Verehrer, ließ es sich nicht nehmen, den Titelsong zu covern.
Die Dunkelheit, die „Nite Flights“ mit sich brachte, breitete sich weiter aus. Aber erst 1983 meldete sich Scott Walker zurück. „Climate Of The Hunter“ war nicht weniger als ein Manifest, eine Sternstunde – von kaum 30 Minuten Laufzeit – die nahezu unbemerkt vorüberging. Trotz der Mitwirkung Mark Ishams, Mark Knopflers(!) und Billy Oceans(!!) (und es hat: Cowbells!!!) wird das Album der größte Flop der erfolgsverwöhnten Geschichte des Virgin-Labels.
„Climate Of The Hunter“ ist eine Wand, ein malmender Sog in den Abgrund, statisch und ständig in Bewegung, ein ständiger Kampf zwischen roher Energie und Verletzlichkeit. Aber nicht in alltäglichen Dingen, sondern im Essentiellen. Ein brodelnder Kampf ums Überleben. In Zeiten, in denen Hedonismus und Partys zwischen Ostermarsch und New Romantic-Flower Power gefeiert wurden, nicht zugänglich genug. Und doch, in seiner vereinnahmenden Melodiösität nur ein sachter Fingerzeig, was sich 1995 mit „Tilt“ und beim verdienstvollen 4AD-Label weiterentwickeln sollte.
Kleine Anekdote: Der Verfasser dieser Zeilen hat sich wegen „Climate Of The Hunter“ eine Zeitlang alle Alben gekauft, derer er habhaft wurde, an denen Drummer Peter Van Hooke beteiligt war. Ich bin kein Freund von überbordenden Trommelexzessen, aber der Stoizismus, die Akkuratesse, die Aussparungen und stets zu spürende Wut, mit der van Hooke zu Werke geht, hat mich ungemein fasziniert. Van Morrison, Mark Isham, Sally Oldfield, Tanita Tikaram passten eh ins Portfolio, Julien Clerc weniger, bei Chris DeBurgh und Mike And The Mechanics habe ich gekniffen. Peter van Hooke hat mehrere Hundert Credits.
„Tilt“, „The Drift“ (2006) und „Bish Bosch“ (2012) ergeben eine Trilogie, die man mit einem Abstieg in die Hölle vergleichen kann. Kategorien wie Bridge und Refrain, hymnische Melodien und peppige Rhythmen hat Walker längst hinter sich gelassen. Diese Alben sind Monumente, ein stetiger Kampf, mit wachsender Verzweiflung geführt, man merkt jede Sekunde, hier wird nicht gespielt, sondern Ernst gemacht. Das ist kein Rock, schon gar kein Pop und keine moderne Klassik, sondern von allem etwas, hier wird dekonstruiert, zerfetzt und neu zusammengesetzt. Mit Texten, kryptischer als das tibetanische Totenbuch („Do I hear 21 21 21, I’ll give you 21 21 21, This Night you are mistaken, I’m a Farmer in the city“). Progressiv im Wortsinn. Da wird auf Schweinehälften und Stahlplatten eingeprügelt, alles fließt wie Lava und zerbricht in gischtartigen Eruptionen. Trotzdem wohnt „Tilt“ und „The Drift“ noch etwas Wärmendes, Tröstliches inne. „Bish Bosch“ ist wie Pier Paolo Pasolinis „Salo – oder die 120 Tage von Sodom“ ein Kunstwerk, dem man sich ein einziges Mal aussetzt, das einen zerreißt und das man nie mehr vergisst.
Dagegen ist „Soused“ (2014), die Zusammenarbeit Walkers mit SUNN O))), ein geradezu mild-freundliches Unterfangen. Nicht wirklich. Klasse Album.
Bleiben noch das kammermusikalische Ballett „And Who Shall Go to the Ball? And What Shall Go to the Ball?“ (für ein Projekt von nicht behindertem und behindertem Tänzer*innen) und die Soundtracks zu „Pola X“ und „The Childhood of a Leader“. Kein Mainstream. Niemals. Nirgendwo. Tanzen, bis man fällt. Und bei dieser Musik muss man fallen. Man lässt sich fallen.
„Man kann nicht 24 Stunden am Tag Künstler sein“, hat Scott Walker einmal in einem Interview sinngemäß verlauten lassen. Er selbst hat – inklusive aller langjährigen Pausen – das Gefühl vermittelt, dass es möglich wäre.
Mit ihm hat sich eine der ganz großen, solitären Künstlerpersönlichkeiten verabschiedet. Aus der materiellen Welt, nicht aus dem kollektiven Gedächtnis. Und wer nicht mindestens ein Album mit Walkers Beteiligung auf die legendäre einsame Insel mitnimmt, ist heftig zu betrauern. Was natürlich auch für „We Love Life“ (2001) von PULP gilt, das Scott Walker produziert hat.