Am 17.05.2022 ist Evangelos Odysseas Papathanassiou, der Welt besser bekannt als Vangelis in einem Pariser Krankenhaus im Alter von 79 Jahren gestorben. Drei Wochen nach dem Tod Klaus Schulzes ein weiterer herber Verlust für die Musikwelt, nicht nur der Abteilung für die elektronischen Komponenten.
Vangelis war ein originärer, origineller Künstler mit vielen Facetten. Er konnte überbordend sein, asketisch, experimentell und meisterlich im Zelebrieren von pompösem Pop. Gerade in der Zusammenarbeit mit Jon Anderson gelangen Vangelis ein paar herzerweichende Schmonzetten. „Find My Way Home“ ist der Zuckerguss auf einer Buttercremetorte, die mit Genuss bei Kerzenschein verspeist wird.
Doch immer konnte die Musik kippen, ins Schräge, Hymnische oder Abstrakte. Vangelis beherrschte die Klaviatur seiner Schöpfungen, die stets Raum ließen für Rätselhaftes und eigene Interpretationen, auch bei seinen gloriosen Soundtracks.
So ist „Rêve“ aus „Opéra sauvage“ unverbrüchlich mit den ehemaligen, melancholischen Jahresrückblicken des ZDF verbunden, bei dem der Track die Kalenderblätter zum Monatsübergang markierte.
Obwohl man Vangelis am ehesten mit seinen keyboard- und sequenzerlastigen Alben verbindet, boten seine ersten Werke progressive Kost, in der auch Gitarren, Bass und Drums nicht zu kurz kamen. „Hypothesis“, „Dragon“ und „Earth“ sind Werke voller treibender Rhythmen und packender Melodien, die sich zwischen Rock, Folk und Weltmusik eine Bresche schlagen. Ein Verweis auf seine Anfänge bei den griechischen Beat-Pop-Heroen THE FORMINX, die mit „Jeronymo Yanka“ einen kleinen Hit hatten, und den Weg bereiteten für die komplexeren und vielfältigeren APHRODITE’S CHILD.
Jene Band, die Vangelis maßgeblich prägte und die bewies wie gut Demis Roussos war, bevor er sich in der deutschen Hitparade niederließ. „Rain And Tears“ gehörte zum Engtanz- Standardrepertoire früher Siebziger-Jahre Partys, zu „It’s Five O’Clock“ konnte man trunken nach Hause wandeln, während „The End Of The World“ eine Ahnung verlieh wie THE MOODY BLUES mit Roussos als Sänger geklungen hätten.
Höhepunkt war sicherlich das meisterliche Konzeptalbum „666“, das musikalische Fabulierkunst vom Feinsten mit Ausflügen ins Orgiastische lieferte. „∞“ gestöhnt von Irene Papas (mit der Vangelis später das feine Album „Odes“ einspielte), ist der zweite große, orgasmotronische Klassiker der Siebziger neben Gainsbourg/Birkins „Je t'aime moi non plus“. Auch mit SOCRATES leistete Vangelis als Produzent und Keyboarder hervorragende Arbeit.
Die gelang Vangelis ebenfalls als Soundtrack-Schöpfer. Seien es seine melancholischen, leisen Werke zu Dokumentationen wie „L’Apocalypse des Animaux“, „Opéra sauvage“ oder das ähnlich gelagerte „Antarctica“ zum gleichnamigen japanischen Film. Den Oscar gab es für „Chariots Of Fire“ („Die Stunde des Siegers“), dessen Titelsong das öffentlich meistgespielte Vangelis-Stück sein dürfte. Die Krönung war aber seine kongeniale Vertonung von Ridley Scotts „Blade Runner“, der die düstere Stimmung des Films passgenau transportierte, auf Süßigkeiten verzichtete, allzu Kakophonisches aussparte und wunderbar ohne visuelle Unterstützung zu goutieren ist. Hans Zimmer ließ sich merklich beeinflussen und schuf zu „Blade Runner 2049“ eine seiner stärksten Filmmusiken als eindeutige Hommage an den griechischen Künstler.
Nicht unerwähnt bleiben soll die frühe Arbeit „Sex Power“, ein psychedelisches Kleinod, so eine Art Sexy-Mini-Super-Flower-Pop-op-Vangelis, leider nicht offiziell veröffentlicht worden. Nicht nur hier hat Vangelis‘ Musik den begleitenden Film überlebt. Selbst Werke wie Francois Reichenbachs Cannes-Beitrag "Entends-tu les chiens aboyer?" („Do you hear the dogs barking“?) aka „Ignacio“ verblassen hinter der Musik.
Welchen Pfaden man Vangelis Solo folgt, ist eigentlich egal, es gibt immer etwas zu entdecken. Von schwerer zugänglichen Alben wie dem sperrigen „Beaubourg“ oder den orchestralen „Invisible Connections“ (erschienen beim Klassik-Label „Deutsche Grammophone“) und „Mythodea - Music for the NASA Mission: 2001 Mars Odyssey“ bis hin zum Schwelgen in Zuckerwatte á la „Voices“ und natürlich „Conquest Of Paradise“, hier kann sich jeder betten wie er mag und offenen Ohres Glückseligkeit finden.
Wie ich, am Morgen nach einer Nacht auf dem Bahnhofsvorplatz von Ravenna. Während meines ersten Interrailtrips ein üblicher Übernachtungsplatz. Im Bahnhofslokal stand eine Musikbox, die es in sich hatte. So gab es zum Frühstückskaffee neben Van der Graafs „Theme One“ Vangelis sprudelndes „Pulstar“ um die Ohren. Besser kann ein Urlaubstag kaum beginnen. Und Italienische Musikboxen haben seitdem einen Platz in meinem Herzen.
Neben den erwähnten Soundtracks habe ich ein besonderes Faible für „Heaven And Hell“ (meine erste Vangelis-Platte), die Traumreise nach „China“, das „Blade Runner“-Geschwisterchen „See You Later“ mit seiner abstrakten Schönheit, die pastoralen und gleichzeitig zurückhaltenden „Mask“ und „Soil Festivities“. „Direct“, die opulente Elektronik-Oper ist langjähriger Begleiter und Aufmunterer, bei „The City“ entsteht ein eigener Neon-Noir.
In der Öffentlichkeit machte sich Vangelis rar, blieb ein Musiker ohne Skandale und bedauerlicherweise in den letzten Jahren recht bühnenabstinent. Lieber malte der musikalische Autodidakt und beschäftigte sich mit Ikonenmalerei. Die bildende Kunst war seine erste Profession, inklusive Studiums an der Akademie der Schönen Künste in Athen. Wir sind froh, dass er sich für die Musik entschieden hat, dankbar für die vielen Jahrzehnte, in denen er dem Soundtrack des Lebens ein bemerkenswerter Begleiter war. Keine Sekunde möchte ich missen.
And I walk through the empty streets thoughts fill my head but then still No one speaks to me My mind takes me back to the years that have passed me by